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Die Koffer sind gepackt: „Winterreise“ in Augsburg. Foto: Jan-Pieter Fuhr
Die Koffer sind gepackt: „Winterreise“ in Augsburg. Foto: Jan-Pieter Fuhr
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Wander- und Erosionsbewegungen

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„Winterreise“: Neue Freiheiten mit einem pessimistischen Klassiker · Von Roland H. Dippel
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Es berührt eigenartig. In drei Theatern gelangten Tanz-Produktionen von Franz Schuberts „Winterreise“ kurz vor der zweiten Corona-Schließzeit ab 3. November zur Uraufführung: In Augs­burg das Tanztheater von Ricardo Fernando auf Hans Zenders „komponierte Interpretation“, in Nordhausen Schuberts Original für Klavier mit Bariton unter der Titelerweiterung „Winterreise oder Stationen einer Flucht“ von Ivan Alboresi mit Musik von Davidson Jaconello und in Trier zu Roberto Scafatis Choreografie (neben Musik des 2018 verstorbenen Isländers Jóhann Jóhannsson).

Eine komponierte Reise in die Einsamkeit als Corona-Syndrom? Die Entscheidung für den 1827/28 entstandenen Liedzyklus ist nicht zwangsläufig ein von der Pandemie begünstigter Trend unter Produktions- und Personaldruck durch Hygienekonzepte. Planungen für diesen Herbst waren schon vor März 2020 weitgehend fertig. Eine Woche vor dem ersten Lockdown kam an der Oper Stuttgart im März die Inszenierung des Filmkünstlers Aernout Mik heraus – wie in Augsburg mit Hans Zenders Überschreibung für Kammerorchester und Tenor, welche der Bühnen-Präsenz des Salon- und Konzert-Opus seit 1993 einen entscheidenden Anschub versetzte. Langfristig geplant ist auch das Gastspiel der für die Mailänder Scala entstandenen „Winterreise“-Choreografie von Angelin Preljocaj Ende März 2021 am Theater Bonn.

Intimer Prüfstein

„Winterreise“ hat also immer Konjunktur und macht in Widerspruch zur oft nur behaupteten ‚Verinnerlichung‘ des Werks immer Effekt. Als sprichwörtlicher Höhepunkt der in den letzten 120 Jahren vom Privat-Halböffentlichen ins Medial-Zirzensische getriebenen Gattung des Kunstlieds ist sie intimer Prüfstein vor allem für männliche Sänger und wenige, bei diesem Werk keine quotengerechten Anteile erreichenden Sängerinnen – trotz Sternstunden von Christa Ludwig, Brigitte Fassbaender und Christine Schäfer. Deren Referenzaufnahmen sind mindestens 15 Jahre alt. Allein in den letzten 18 Monaten erschienen mindestens vier Neuaufnahmen der „Winterreise“ im Original, eine davon mit Thomas Adès und Ian Bostridge, dessen Auftritt in der Zender-Fassung mit dem Ensemble Modern in Frankfurt nachgeholt wird.

Wenn eine „Winterreise“-Aufnahme der untrüglich gute Tipp für ein behagliches Weihnachtsgeschenk wird, stimmt meistens etwas nicht. Sogar das weichzeichnende Segment des Klassik-Markts verortet Wilhelm Müllers bittere Verse und Schuberts Zerrissenheit eher in der Nische für widerborstige Grenzgänger als beim „Dreimäderlhaus“. Zwei Zitate finden sich im Zusammenhang mit „Winterreise“ fast überall. Schuberts Definition der in zwei Schüben komponierten Zwölfer-Gruppen als „Zyklus schauerlicher Lieder“ und der Kommentar seines Freundes Joseph von Spaun: „Wir waren über die düstere Stimmung dieser Lieder ganz verblüfft.“

Trotz deprimierender Düsternis ist „Winterreise“ der populäre Gipfel der Exoten-Gattung Kunstlied und bleibt dabei ein Werk für Individualisten. Nie verblasst sind bei vielen die Erinnerungen an Musikunterrichtsstunden, in denen an „Winterreise“ der Unterschied zwischen der ‚poetischen Realität‘ des Wanderns im Winter und der Metaphorik des Dilemmas zwischen dem Einzelgänger und dem Gemeinwesen erläutert wurde. Was für Themen-Assoziationen sind in diesem Werk möglich: Isolation als Widerstand gegen Repressionen, Wandern als Zivilisationsnomadentum, die Persönlichkeitszersetzung eines Psychotikers und – warum nicht? – „Winterreise“ als Report über eine zwar gefährliche, aber gemeisterte Sinnkrise.

Mimisches Vermächtnis

Ein Film und eine Werkmonographie sind Impulsgeber zur aktuellen „Winterreise“-Sturmflut. Das 2015 erschienene und von Alfred Brendel in „Die ZEIT“ hymnisch bejubelte Buch des britischen Tenors Ian Bostridge, der mit literarischen Ambitionen und der Vielzahl seiner „Winterreise“-Einspielungen in die Fußstapfen des Baritons Dietrich Fischer-Dieskau tritt, ist so anregend wie der erst im Oktober gestartete und im Vorfeld von starkem Medienecho begleitete Film „Winterreise“. Anders Østergaard vermischte in seinem filmischen Essay nach Martin Goldsmiths Interview-Buch „Die unauslöschliche Symphonie: Musik und Liebe im Schatten des Dritten Reiches – eine deutsch-jüdische Geschichte“ (2002) dokumentarisches Material und Spielszenen. Als letzte Rolle seines Lebens spielte der im Februar 2019 verstorbene Bruno Ganz den unbekannten Vater. „Winterreise“ hält vor allem durch Ganz’ mimisches Vermächtnis die Auseinandersetzung mit Schuberts Metaebenen in stetiger Bewegung.

„Winterreise“ spiegelt in neuen Adaptionen neben Verzweiflung und Resignation die konkrete Situation Geflüchteter. Akuter Kreativtreibstoff also für Theater und Studio, wo die Idee des Konzeptalbums Vorteile gegenüber der Auflösung in Nummernhäppchen durch Streaming-Angebote beweist. Neuordnungen musikalischer Bausteine gehören zum Verstörungs- und Verzauberungsprogramm des Neuen Tanzes. Insofern ist Zenders das Bewusstsein für Schuberts Musikstrukturen schärfende Bearbeitung für diese Kunstsparte ein möglicherweise noch besserer Soundtrack als das Original. Schubert geht natürlich auch ohne Zender. Ivan Alboresi begründete das am Theater Nordhausen: „Die Musik ist tiefsinnig und ergreifend, die Thematik sehr inspirierend und perfekt für ein Ballett, das überwiegend mit Soli arbeitet, nicht mit einer durchgehenden Geschichte um ein Hauptpaar.“ Alboresi nahm einen Mantel als Hauptrequisit, nutzte Stoffsäulen sowie eine dualistische Licht- und Kostümregie. Er verallgemeinerte und poetisierte. Roberto Scafati, sein Kollege in Trier, erweiterte dagegen seine „Winterreise“ zu einem zeitlosen Aufbegehren. Scafatis Nachdenken reicht von der schwarzen Romantik bis zur Studentenrevolte, der tanzende Wanderer ist Lichtgestalt in der pechschwarzen Herde der sozialen Schafe.

Sparten-Exot

In der Augsburger Spielstätte martini-Park verwendet Ricardo Fernando die Zender-Fassung ohne Zusätze. Er macht den Sänger zum von Schnee und Bewegungswirbeln getriebenen Sparten-Exoten unter Tänzerinnen und Tänzern. Der Wanderer begegnet einem mobilen „Lindenbaum“ und leibhaftigen Krähen, aus Tanz wird packendes Musikdrama und der Gestus dadurch noch expressiver. Der Tenor Jacques le Roux zeigt die vokale Löwenpranke und erobert sich den Werkkosmos in einer faszinierenden Parforce-Tour.

Was für eine seltene Synthese. Denn lange Zeit wurden die Extrempostionen von Dietrich Fischer-Dieskaus in vier „Winterreise“-Aufnahmen demonstriertem Gestaltungswillen und eher unbefangene Interpretationen wie jene von Jonas Kaufmann als unvereinbare Gegensätze betrachtet. Alle Interpreten und Interpretinnen der letzten vier Jahrzehnte wurden zwischen diesen beiden Polspitzen kategorisiert und gewichtet. Jacques le Roux findet einen zwar nicht neuartigen, aber persönlichkeitsstarken und packenden Weg zur „Winterreise“, weil er sich expressive Freiheiten gestattet und diese die Dramatik des Tanztheaters steigern. Es geht ihm um den Sinn, nicht um Andersmachen unter Originalitätszwang. Unter ähnlich expressivem Starkstrom agierte der katalanische Countertenor Xavier Sabata in seiner Einspielung von 2019. Zu Recht gab es Kritik an dieser „Winterreise“ im Anfängerstadium. Ungerecht war allerdings die Schelte wegen mangelhafter Bewältigung. Sabata hätte den Zyklus in ihm angenehmer Lage problem- und makellos singen können. Er wollte das aber nicht. Fragwürdig ist allenfalls Sabatas impulsive Entscheidung, bei seinem ersten Auftritt mit der Gattung Kunstlied ausgerechnet „Winterreise“ als Brechstange gegen den Belcanto zu schwingen.

Respekt artikuliert sich bei „Winterreise“ trotz bestehender Risiken durch Freiheitsdrang und schöpferischen Mut. Dafür gibt es in jüngster Zeit drei faszinierende Beispiele. Das Voyager Quartet verkürzte den Zyklus auf 50 Minuten mit 12 Liedern, die es in ein Preludio und elf ‚modern‘ komponierte Intermezzi des Bratschisten Andreas Höricht einbettete. Diese „Winterreise“ ohne Gesang gerät so zur Phantasie in kalten Harmonien von zart bis hart. Sie wird angepackt wie ein Evergreen à la „Lili Marlen“ und es liegt nur an den Interpreten, ob Sehnsucht und emotionales Erinnern zu starker oder trivialer Musik werden. Zwei weitere selbstbewusste, subjektive und deshalb Schuberts Hochspannung bewahrende Adaptionen durchschneiden die hauchdünne Folie zwischen Original und Gestaltungen, die ihre Relevanz durch allzu betuliche Annäherung und unehrliche Devotion verspielen. Das Ensemble Resonanz setzte „The Mercy Seat“ und andere Songs von Nick Cave als Prolog und Intermezzi an „Winterreise“. Ausgerechnet mit dieser kontrastreichen Mischung aus Independent Rock und Schuberts in Chansons verwandelten Gesängen befreien sich zudem ein Jazztrio und Tobias Schwenckes Bearbeitung  aus dem durch Hörerwartungen und Angst vor Experten-Schelte verrammelten Bunker der übervorsichtigen Annäherung: Ein Gefangener kauert in der Todeszelle und Todes­atem greift nach ihm. Auf ein sehniges Ostinato und poetischen Rotz beginnt der Schauspieler Charly Hübner sein „Fremd bin ich eingezogen“. Streicherfiguren klingen abwechselnd nach Klezmer und Kaffeehaus, aber auch schroff.

Den „Lindenbaum“ fällt ein Kinderchor in Platt. Man greift derart in Müllers Text ein, dass nichts mehr unverständlich bleibt: Der Wanderer ist Flüchtling und kommt zu Fall, weil er die Spielregeln der permissiven Gesellschaft nicht beherrscht. Hübner nutzt alle Ausdrucksmittel vom Gesang bis ins geschärfte Flüstern mit erstaunlicher Präzisionsarbeit am Original. Auch Täter leiden. Der Wanderer zeigt Zähne und presst die Lippen zusammen. Nur das in der Mitte als Bonustrack für das Ensemble Resonanz eingestellte Adagietto aus Mahlers Fünfter bringt diese „Winterreise“ in die Nähe eines chilligen Crossovers.

Musikalische Alchemie

Beim anderen Beispiel für ästhetischen Kampfesmut erstaunt das Gelingen, zumal Überlappungen von Weltmusik mit europäischer ‚klassischer Musik‘ oft schief gehen. Aber das Asambura-Ensemble besteht aus Meistern der musikalischen Alchemie und findet (fast) den Stein der Weisen. Fremdheit, Enttäuschung und Sehnsucht werden hier von den Wunden eines monomanischen Eigenbrötlers zum philanthropischen Dialog aus Gesängen. Yannick Spanier für Schubert und Mehdi Saei mit iranischen Ghazelen singen als vokale Zwillinge beide Bassbariton. Die außereuropäischen Musik-Idiome wollen keinen Wettbewerb mit den berückend schön arrangierten Schubert-Liedern, deren durch Omnipräsenz fast verlustige Schockwirkung zur breiten und sogar tröstlichen Rhapsodie wird.

Nach den Helden kommen im Fall der „Winterreise“ immer wieder unfreiwillige Clowns, die Schuberts harte Federstriche zu matten Aquarellen verschmieren. „Winterreise“ ist trotz singulärer Leistungen von Sängerinnen in erster Linie noch immer eine Männersache, die allerdings schon durch Schubert selbst auffallend gründlich von toxischer Männlichkeit gereinigt wurde. Neben mentaler Schwerstarbeit durch Stimme und Tasten behaupten sich zunehmend leichtere Gangarten, die mehr sein wollen als oberflächliche Unbedenklichkeit. Eine derart schöne Folge von Liedern gelang Pavol Breslik und Amir Katz bei ihrer Live-Aufnahme in Hohenems 2018. Schuberts Zyklus bleibt hier anstelle der Portionierung in 24 hochdramatische Szenen eine mit unaufdringlicher Emotion vorgetragene Erzählung. Man hört Zerfaserungen ohne hochauflösende Nachbearbeitung. Breslik und Katz haben ein gesundes und dabei sensibles Selbstbewusstsein, das sie nicht hinter devotionaler Einfallslosigkeit verstecken. Interpreten mit dieser aufrechten und klaren Haltung gibt es für „Winterreise“ noch immer zu wenige. 

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