Banner Full-Size

Wenn das Böse richtig gut ist

Untertitel
Eine Betrachtung des Faust-Mythos als Quelle musikalischer Inspiration
Publikationsdatum
Body

Die Faszination an Gewalt, Dämonen, grenzüberschreitenden Phänomenen und Verhaltensweisen verbindet viele Menschen. Unsere dämmernden Erinnerungen reichen bis zu frühen Äonen, loseren Gesellschaftsformen, kleineren Stammesverbänden – wo Gesetze nicht da waren, geschweige denn niedergeschrieben wurden. 20–30 Leute, die um das Überleben kämpften, so vermutet die heutige Forschung, war die Größe eines durchschnittlichen steinzeitlichen Verbandes. Wer wurde getötet? Warum? Wer konnte überleben? Zusammenhalt war das Ein und Alles, um – hoffentlich – zu bestehen.

Seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts sind Werke über die Figur eines gewissen Johann Faustus bekannt. Ein Alchemist soll er gewesen sein, der in einer großen Explosion in seinem Labor umkam. Die Unklarheiten über seinen Tod und sein Leben boten Raum für Phantasie.

Kräfte unlauterer Natur

Damals waren die Grenzen zwischen Astrologie und Astronomie, zwischen Alchemie und Wissenschaft, zwischen Zauberern und Forschern undefiniert. Die Kräfte, die ein Faustus rief, waren sicherlich unlauterer Natur, munkelte man.

Da kommt ein Mephistopheles (Spitzname: Mephisto) gerade recht, mit Anklängen an die Erbsünde, Hochmut, Gier und diverse andere „Sündenvorstellungen“ der Zeit. Zum Glück sind wir heute weiter und schlagen uns nicht mehr mit Schuldgefühlen herum … Erfolg oder Scheitern kann Schuldgefühle des Handelnden, aber auch Neid, Hass und Furcht der Beobachtenden auslösen. Was ist Schuld? Wie macht man sich schuldig? Wie lautet die „Anklage“? Wer klagt überhaupt an?

Faust-Figur

Franz Liszt (1811–1886) rang lange Zeit mit der Faust-Figur. Wie Faust war auch er ein Suchender, ein Grenzgänger (sowohl über Landes- als auch bisweilen über Sittengrenzen hinaus) und ernsthaft gläubig, wenn auch durchaus weltläufig eingestellt.

Liszt behandelt die Faust-Legende in einer fortlaufenden Klangspur und nennt dies eine „Sonate“ (erschienen 1853), sicherlich lakonisch schmunzelnd über diese weder zutreffende noch adäquate Gattungsbezeichnung – false advertising, würde man auf Englisch sagen: ein ganz neuer Wein in einem alten vertrauten Weinsack.

Schildern, was man nicht sehen kann

Ferruccio Busoni (1866–1924), trans­zendentaler Pianist, visionärer Neutöner-Komponist und Neo-Lisztianer, der mit seinem magnum opus, der Oper „Doktor Faustus“, keinen geringen Beitrag zur Faust-Rezeption lieferte, erläutert in seiner Schrift „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“ (1907), die Rolle der Musik sei, zu schildern, was man nicht sehen kann. In einer Oper sei es müßig, während einer Sturmszene den Donner nachzukomponieren, vielmehr müsse die Musik Innerliches veräußerlichen. Sein Beispiel behandelt insbesondere Bühnenmusik, gilt jedoch für die sogenannte „absolute“ Instrumentalmusik genauso, da diese ebenfalls „großes Theater“ darstellt: „Das Gewitter ist sichtbar und hörbar ohne Hilfe der Musik; was aber in der Seele des Menschen währenddessen vorgeht, das Unsichtbare und Unhörbare, das soll die Musik verständlich machen.“

Gießen in fortfließende Formen

Liszt gießt persönlichstes Erleben in klare, stets fortfließende Formen – Extrakte eines Tagebuchs, mit einer Fuge ergänzt. Meiner Meinung nach vermischen sich Erinnerungen, lange durchwachte Nächte des Ringens, des Zweifelns, Reminiszenzen an Tausendundeine Nacht in zart-pinken Tönen, mit dem tropfenden Tau des neuen Morgens (mir läuft das Wasser im Munde zusammen bei der Vorstellung dieser Klänge). Ich will Franz L., dem Meister, zuflüstern: „I know what you did last summer, the summer of 1844.”

Und das Werk, sein Aufbau, seine Mittel? Wie klingen die Schrecken des Herrn L. anno 1853? Kurz: etliche Dominantseptakkorde – nebeneinander, nacheinander aufgereiht, spiralförmig himmelwärts aufsteigend und in Doppeloktaven absteigend in den Höllengrund; DNA-förmige Spiralen aus kleinen Terzen, die nie enden; die beruhigend ruhende Kraft des festen Bodens ist weg; keine Quintbalken, um die Harmonien zu kräftigen. Es wirbelt, bis massive Grundstellungsdreiklänge (achtstimmig, über drei Oktaven gespannt, eine Oktave auseinander, die linke Hand im tiefsten Bass) granitartig auftauchen. Die Dynamikbezeichnungen reichen von fff bis mf. Dann die Ankunft des Erzengels des Herrn – es ist Gabriel, der verkündet: „Fürchtet Euch nicht. Der Herrgott ist bei Euch und wird Euch nicht verlassen.“

Botschaft des Engels

Aber warum wird diese Stelle, die dreimal erscheint, einmal leiser (von fff über mf zu fff)? Vielleicht tönte die Botschaft des Engels einmal ferner, weniger glaubhaft im Inneren des Komponisten ... und er, Faust/
Liszt, musste doch allein weiter ringen. Und dann, einem Heer keltischer Bläser gleich, stürmt der Engel kurz vor Schluss wieder in den Vordergrund: „Ich bin doch da!“

Pochendes Motiv oder Klopfen

Ein weiteres, nicht zu überhörendes, pochendes Motiv: Mancher Kommentator deutet dies als ein Klopfen. Ist da vielleicht der Deibel direkt vor der Tür, der um Einlass bittet? Dieses Motiv erscheint ein letztes Mal auf der letzten Seite des Werkes – ein letztes Anrufen des Dämons. Aber bloß Allegro moderato – das Insistieren scheint nachgelassen zu haben. Vielleicht hat Satans fähigste Feldverkaufskraft (Mephisto) gespürt, dass „die Konkurrenz“+ nicht schläft. Diese Seele wird er nicht behalten können. Dieser Stelle folgt ein rallentando, zunächst in der Höhe, pianissimo – ein Gefühl der Ermüdung, der Resignation entsteht. Dann: große, tiefe, lange Akkorde – von gis-Moll über G-Dur nach H-Dur schlitternd. Die (angebliche) Tonika, h-Moll, ist abgelöst. Aber die Auflösung ist zaghaft, die Akkorde kurz, unentschlossen und kaum vernehmbar. Das absteigende Motiv des Sonatenanfangs kommt wieder, noch müder. Ab in die Tiefe der Klaviatur zur vorvorletzten weißen Taste, ein kleines Aufbäumen – eine entschiedene C-Basssaite, kühn schwingend, über der unverhofft ein hoher, breitflächiger a-Moll-Akkord im pp schwebt, für vier zeitlose Viertelschläge – was kommt dann? Wo führt das hin? Es ist doch alles vergebens, oder nicht?

Ein mutiger Halbtonschritt, und aus dem a-Moll wird F-Dur – laut Arthur Friedheim (1859–1932), Pianist sowie Freund, Privatsekretär und Schüler des Herrn L., mezzopiano zu spielen. Noch einmal vier Schläge – und dann erscheint der Heiland, die Gnade Gottes. Faust und Herr L. werden nicht auf dem ewigen Barbecue des Herrn landen – ihnen wird vergeben.

Dieser Gott ist nicht der des Alten Testamentes, sondern der des Neuen. Faust und Franz dürfen ihre beiden Augen und alle Zähne behalten. Die Dreifaltigkeit einer erlösenden Harmonie schließt das Werk ab – drei lange breitflächige H-Dur Akkorde im piano-pianissimo. Es ist ein Wunder geschehen. Erbarmen. Ein sanfter Punkt, das tiefste H, eine Achtel, und es ist vorbei. Dieses letzte H verstehe ich nicht. Aber ich mag es – es birgt teuflisch gute ironische Möglichkeiten.

Zur Erholung

Eine andere Betrachtungsweise: Die Klaviersonate Nr. 1 des Sergej Rachmaninow. 1906 fuhr ein gewisser Sergej R. (1873–1943) zur Erholung und zum Komponieren nach Dresden. Um seine Auffassung des obigen Stoffes zu erfahren, solltet Ihr am Sonnabend, 4. März, um 19 Uhr zur Aufführung beider Sonaten in der Schwartzschen Villa in Berlin-Steglitz erscheinen (Eintritt frei, Austritt nicht).

Timothy Thorson ist Pianist und Komponist. Er stammt gebürtig aus San Diego, Kalifornien, wuchs in Toronto auf und wurde bei Caio Pagano in den USA, bei Jean Langlais in Paris, bei Gregor Weichert in Münster und bei Conrad Hansen in Hamburg ausgebildet. Seit 2006 lebt er in Berlin, wo er unterrichtet, konzertiert und komponiert. Er ist Mitglied im DTKV Berlin.

Print-Rubriken
Unterrubrik
Musikgenre
Tags