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Werde, der du bist!

Untertitel
Uraufführungen 2019/04
Publikationsdatum
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An einer Säule des Apollontempels im Orakel von Delphi lasen die Pilger vor zweieinhalbtausend Jahren die Aufforderung „Γνῶθι σεαυτόν“, „Erkenne dich selbst!“ Im selben Sinne gab der antike Dichter Pindar in seinen „Pythischen Oden“ den Zuhörern und Lesern den Rat „Werde, der du bist!“. Friedrich Nietzsche formte daraus schließlich den Untertitel „Wie man wird, was man ist“ zu seiner autobiografischen Spätschrift „Ecce homo“. Doch wie erfährt man eigentlich, wer man ist? Wie kann man überhaupt werden, was man doch schon ist? Oder haben Herkunft, Sprache, Religion, Moral, Kunst, Kultur und Kommerz längst etwas aus mir gemacht, was ich gerade nicht bin? Sind Geschichte, Tradition, Familie, Gesellschaft, Vorbilder verschiedene Wege zu mir selbst, oder lenken sie mich von mir ab? Das führt zum Kern der Frage: Wie unterscheide ich das, was ich tatsächlich bin, von dem, was andere von mir denken oder wollen, dass ich sei?

Die vermeintlich einfache Faust- und Lebensregel „Werde, der du bist!“ entpuppt sich bei solchen Nachfragen schnell als die wohl größte und komplexeste Lebensaufgabe, die jeder für sich zu bewältigen hat. Angesichts der damit verbundenen Schwierigkeiten klagte Hermann Hesse in seinem „Demian“: „Ich wollte ja nichts als das zu leben versuchen, was von selber aus mir heraus wollte. Warum war das so sehr schwer?“ Zu machen, schaffen und leben, was aus einem selber „heraus will“, gilt erst recht für jede Künstlerin und jeden Künstler. Denn von deren Arbeit erwartet man schließlich immer noch Eigenes, Authentisches, Originelles, Einzigartiges, Unverwechselbares, Neues. Doch wer meint, mit seiner Arbeit einzig zu sein, der leidet auch unter Ängsten, weil er sich möglicherweise Isolierung, Ausgrenzung oder Marginalisierung ausgesetzt sieht. Am Rande eines Musikfestes klagte jüngst ein mitvierzigjähriger Komponist einer jüngeren Kollegin, dass in den Konzerten vor allem Arbeiten mit Video, Szene, Kartenspielen, Performances, Livemoderationen und Partizipationen des Publikums geboten wurden: „Wir sind hier wohl in der Minderheit, die wir noch schöne Klänge, Formen, Musik und Partituren schreiben möchten“.

Jener Komponist mochte mit seiner Einschätzung des Verhältnisses von Konzertmusik und Konzeptmusik Recht haben. Doch statt sich über seinen Status als Minderheit zu betrüben, sollte er vielleicht eher froh sein, nicht mit der größeren Herde auf aktuellen Modewellen zu surfen, sondern eben solche Werke zu schreiben, von denen er meint, in ihnen seine ihm eigene Musik ge- oder erfunden zu haben, auch auf die Gefahr hin, von manchen Speerspitzenträgern als traditionell oder vorgestrig gescholten zu werden. Und was macht all das zu guter Letzt mit uns Hörerinnen und Hörern? Sollen wir hören, was Namen, Titel, Kommentare, Artikel, Kritiker, Fachleute, Meinungsmacher, Livestyle und Influencer verlautbaren und uns hören machen wollen? Es mag nie schaden, auch andere Gedanken und Positionen kennen zu lernen, doch schlussendlich geht es um die jeweils eigene ästhetische Erfahrung. Dabei ist jeder mit sich allein. Und nur wenn wir beim Musikerleben wirklich selber es sind, die auf je eigene Weise Musik erleben, öffnet uns Musik auch so etwas wie Selbsterfahrung. Das macht das Hören von Musik zu einem ausgezeichneten Medium der Selbstbeobachtung – und vielleicht auch der Selbstfindung. Angebote, die uns helfen, un selbst zu erkennen und endlich die zu werden, die wir sind, gibt es immer und überall, auch jetzt im März.

Weitere Uraufführungen:

02.03.: Lubica Cekovská, Three pieces from Stabat mater, Prinzregenten-theater München
08.03.: Beat Furrer, Schnee-Szenen für zwei Soprane und Orchester, musica viva, Herkulessaal München
12.03.: Iris ter Schipphorst, Streichquartett, Musik 21, NDR-Sendesaal Hannover
22.-31.03.: MaerzMusik, neue Stücke von Jennifer Walshe, Timothy Morton, Elaine Mitchener, Justé Janulyté, Berlin
25.03.: Lucia Ronchetti, Speranze fuggite, sparite da me, Kölner Philharmonie
26.03.: Juliane Klein, Neues Werk, BKA Theater Berlin
31.03.: Bill Hopkins, Mauro Lanza, neue Orchesterwerke, Musik der Zeit WDR-Funkhaus Köln

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