Auf dem Weg vom Brandenburger Tor zur Komischen Oper passiert man die riesige, weiträumig abgesperrte Russische Botschaft. Im Innern des Opernhauses beginnt dann „Schwanda, der Dudelsackpfeifer“ von Jaromir Weinberger, einem jüdischen Komponisten, der aus seiner tschechischen Heimat fliehen musste. Der Regisseur Andreas Homoki hat deshalb in die Höllenszene dieser Oper Hitler und Stalin eingebaut. Nach dem Schlussbeifall wendet sich der Sänger der Titelfigur ans Publikum und spricht von dem merkwürdigen Gefühl, in diesen Zeiten ein unbeschwertes Happy End zu erleben. So bittet er um Spenden für Ukraine-Flüchtlinge. Zu Tausenden treffen sie täglich am Berliner Hauptbahnhof ein.
Szenen wie diese finden jetzt auch anderswo statt. Man hat ein schlechtes Gewissen, sich einfach nur an schöner Musik zu erfreuen. Deshalb gibt es Programmänderungen, werden beispielsweise russische Werke durch die ukrainische Nationalhymne ersetzt. Nicht zuletzt bei Solidaritätskonzerten erklingt diese Komposition von Mychajlo Werbyzkyj. Der Krieg hat auf die Symbolik von Kunst hellhörig gemacht. Musik wird wieder verstärkt als politischer Faktor wahrgenommen.
Dies galt ebenso im Zweiten Weltkrieg, als in Deutschland Musik zur psychologischen Kriegsführung eingesetzt wurde. Sie sollte Angstgefühle verdrängen und den Glauben an den Sieg der eigenen Truppen stärken. Beethoven hatte in den Konzerten damals Hochkonjunktur. Bei einem Dresdner Beethoven-Abend im Herbst 1939 hieß es im Programmheft, es gebe kaum einen anderen deutschen Komponisten, „der uns in diesen Kriegszeiten mehr zu sagen hätte als Ludwig van Beethoven“. Nach der Eroica erklang die Neunte Symphonie, die so eingeführt wurde: „‚Seid umschlungen, Millionen!‘ – ist das der Ruf eines Pazifisten? Gewiss nicht. Es ist der Ruf des Helden, der gesiegt hat und im stolzen Gefühl dieses Sieges sich an die Menschheit wendet.“ In vielen Konzerten wurde damals die Musik Beethovens für Kriegspropaganda missbraucht.
Die Programme beschränkten sich immer mehr auf Werke deutscher Komponisten. Musik anderer Nationen kam entsprechend ihrem Beitrag zum Kriegsgeschehen hinzu. Solche aus der Sowjetunion war zuvor in Hitler-Deutschland kaum je erklungen. Das änderte sich nach dem Stalin-Hitler-Pakt vom 27. August 1939, als Aufführungen russischer und sowjetischer Werke plötzlich zunahmen. Der Verlag Breitkopf und Härtel nahm nun die 5. Symphonie von Dmitri Schostakowitsch ins Programm, die beispielsweise 1940/41 in Essen zur Aufführung kam. Deutsche Opernhäuser interessierten sich jetzt für Borodins „Fürst Igor“ oder Glinkas „Ein Leben für den Zaren“. Besonders ausgiebig wurde im Mai 1940 der hundertste Geburtstag von Peter Tschaikowsky gefeiert, dem sogar Herbert Gerigk ein ausgeprägtes Rassegefühl bescheinigte. In Dresden war die Tschaikowsky-Feier der Philharmonie ein solcher Erfolg, dass ein zweiter Abend stattfinden musste. Auch dieser war ausverkauft und erzeugte Beifallsstürme.
Der Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 ließ dann abrupt russische Musik von den Programmen verschwinden. Schon am 12. Juli gab die Reichsmusikkammer bekannt, es sollten „die Werke russischer Komponisten bis auf weiteres ausnahmslos nicht aufgeführt werden. Sinngemäß ist auch die öffentliche Darbietung russischer Volkslieder unstatthaft.“ Im November 1939 wurde generell Musik aus Feindstaaten, mit Ausnahme von Chopin und Bizets „Carmen“, verboten. Staatliche Boykott-Maßnahmen diktierten die musikalischen Sympathien und Abneigungen. Anstelle der einst geliebten Russen erklangen jetzt Werke befreundeter Nationen: der Italiener Bossi, Casella und Malipiero, des Spaniers Manuel de Falla oder der Finnen Sibelius, Kilpinen und Palmgren. Sodann ging man daran, einige besetzte Gebiete zu „germanisieren“. So bestimmte der Reichskommissar für die Ukraine den bislang in Königsberg tätigen Dirigenten Wolfgang Brückner zum neuen Direktor der Oper in Kiew und zum Leiter der dortigen Philharmonie. Sein Konzertmeister wurde Toni Faßbender, zuvor Konzertmeister der Dresdner Philharmonie.
Auch das Ausland verhängte damals Boykottmaßnahmen gegen Deutschland. Schon im 1. Weltkrieg hatten die Alliierten „Feindvermögen“ wie etwa die Bechstein-Filialen in New York und London beschlagnahmt. Wegen seines Staatsrats-Titels erntete Wilhelm Furtwängler, der sich um Distanz zum Regime bemühte, ab 1934 bei Auftritten im westlichen Ausland scharfe Proteste. Und dem jüdischen Dirigenten Leo Blech verübelte man 1937 in den USA, dass er weiterhin in Berlin tätig war. Der Weltkrieg verschärfte noch die Boykotthaltung. So verfügte die britische BBC im Juni 1940 einen Bann gegen „enemy music“. Intern erhielten die Redakteure eine Verbotsliste mit 73 österreichischen und 239 deutschen Komponisten. Zu den vom Sendeverbot Betroffenen gehörten neben Alban Berg, Gustav Mahler, Anton Webern und Hugo Wolf auch der Regime-Gegner Karl Amadeus Hartmann und die Emigranten Erich Wolfgang Korngold, Arnold Schönberg, Egon Wellesz und Alexander Zemlinsky.
Einziges Kriterium dieser grotesken Verbotsliste war die nationale Zugehörigkeit von Komponisten und ihr geltender Urheberrechtsschutz. Durch die Aufführungsverbote sollte die Zahlung von Copyright-Gebühren nach Deutschland verhindert werden. Glaubte man wirklich, Hitlers Kriegskassen dadurch reduzieren zu können? Entsprechend sind heute pauschale Boykottmaßnahmen gegen russische Kunst und Kultur kaum zu rechtfertigen.