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Mitglied des Ensemble Selisih: Nicolas Reed. Foto: Frank Schindelbeck
Mitglied des Ensemble Selisih: Nicolas Reed. Foto: Frank Schindelbeck
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Wie von dieser Welt

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Zehn Jahre Kontrapunkte Speyer: Portraitkonzert Dieter Mack
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Provinz ist da, wo sich das Musik-Jet-Set die Klinke in die Hand gibt, also in den großen Städten: So beschrieb der brillante Autor und intellektuelle Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus vor genau 40 Jahren – lang, lang ist’s her – den Unterschied zwischen einem gewachsenen Musikleben und dem internationalen Musikbetrieb. Beides habe nichts miteinander zu tun.

Das stimmt auch heute: hier die halbprivate Schubertiade, der engagierte Kantor, das örtliche Ärzteensemble, das wackere Stadttheater und die engagierte Musikschule, da das hochkarätige Reiseorchester und pars pro toto das Never-Ending-Max-Bruch-Violinkonzert. Der Drang nach äußerster Perfektion und „die Suche nach einem gemeinsamen Nenner für die von Land zu Land wechselnden Publikumstendenzen“ (Dahlhaus) würden zwangsläufig zu einer Schrumpfung des Repertoires führen – kleine Klassik als Erste-Welt-Musik? Zudem fände Neue Musik in einem starren System von Festivals, Rundfunkanstalten und amerikanischen Universitäten statt, was sie insgesamt isolieren würde, konstatierte Dahlhaus kurz vor dem Deutschen Herbst.

Örtliches Musikleben und internatio­naler Musikbetrieb stehen sich heute nach wie vor unvermittelt gegenüber. Agenturen versorgen wirtschaftsliberal die Konzertanbieter mit internationalen Stars. Verhandelt wird wie im Wilden Westen: Besser, man weiß nicht zu viel über die Probenkonditionen. Hannes Waders „Heute hier, morgen dort, bin kaum da, muss ich fort“, sicher anders gemeint, ist das Gebot der effizienten Musikstunde am Abend: Mit einem der Big-Five-Klangkörper aus den USA ist es am Rhein dann einfach genauso schön, wie wenn dasselbe Kollektiv die Berliner Luft in Konzerthausdosen zum Schwingen bringt. Freilich gibt es auch Ausnahmen, der Konkurrenz- und Legitimationsdruck ist immens groß geworden. Das mag alles sehr pauschal klingen, umreißt aber doch die gegenwärtige Situation: Lasset die reichen Russen zu mir kommen.

Genau aber das ist die Chance der wirklichen Provinz: der kleineren Stadt, der Region und des flachen Landes. Wer den Spieß herumdreht, kann mit einem fast schon verschwenderischen Reichtum der Programme glänzen und sich damit von der Monotonie des Internationalen oder der – sobald es moderner wird – unruhigen Sponsorenkontingentkonzerte abheben und damit den Riss zwischen Musikleben und Musikbetrieb zumindest partiell kitten. Dabei gilt: Avantgarde muss keine Turnhallen füllen, sonst wäre sie keine. Nur in Donaueschingen tut sie es – aus Raummangel.

In der altehrwürdigen Kaiserstadt Speyer kuratiert der ästhetisch und als Pianist künstlerisch-ausübend erfahrene Stephan Rahn seit zehn Jahren seine frühjährlichen „Kontrapunkte Speyer. Konzertreihe für zeitgenössische Musik“ im Rathaus. Oberbürgermeister Hans-Jörg Eger grüßt herzlich im Vorwort und verdeutlicht damit auch den politischen Willen zur Konzertreihe. Veranstalter ist das städtische Kulturbüro. Pluspunkt: Rahn macht sich rar. Nur vier Mal pro Jahr lässt er aufspielen. Moralischer Druck hingehen zu müssen, kann so gar nicht erst entstehen, die Neugier bleibt auf der Höhe. Weiterer Pluspunkt: Mit „zeitgenössisch“ meint Rahn die Programmdramaturgie, nicht die Entstehungszeit der Werke. Wir stehen in der Neuen Musik ohnehin vor einem Gebirge von Einmalpartituren, deren Geschichtlichkeit noch gar nicht begonnen hat. In dem aktuellen Speyerer Konzert-Quartett wird unter anderem Bach mit Violeta Dinescu kombiniert, ein „Volkslied“ durch die Epochen verfolgt oder erklingt das minimalistische Flötenkonzert von Michael Nyman. Im besuchten Konzert am Muttertag spielte nicht Anne-Sophie sondern das fulminante Freiburger „Ensemble Selisih“ Werke des in Speyer geborenen und in Lübeck als Kompositionsprofessor und Vizepräsident lehrenden Dieter Mack, Jahrgang 1954.

Der kulturelle Bogen hätte bei diesem Heimspiel in Speyer nicht größer sein können. Mack erforschte über zehn Jahre die indonesische und balinesische Musik vor Ort und gründete danach sein eigenes Gamelan-Orchester. Auch musikpolitisch nahm und nimmt Mack seine Verantwortung wahr, unter anderem als Vorsitzender des Musikbeirats des Goethe-Instituts oder der Musikauswahlkommissi­on des Deutschen Akademischen Austauschdienstes.

„Selisih“ bedeutet im Indonesischen Dialog und Auseinandersetzung. Beides ist kompositorischer Lackmustest. Damit erinnert er nicht nur an die artifizielleren Werke von Frank Zappa, als Boulez ihn seinerzeit dirigierte, sondern auch an die schriftlose Musik in Asien. Der Meister singt vor, was die Eleven lernen oder imitieren oder woraus sie entwickeln sollen. „Tiga Kata“ (Drei Worte) für Flöte (Maruta Staravoitava), zwei Saxophone (siehe oben) und Klavier (Mathias Trapp) ist mit „with challenging energy“ überschrieben, was die Haltung der Spieler insgesamt sehr gut beschreibt. Energiegeladen und höchste Virtuosität fordernd ziehen sich die oft parallel geführten Saxophon- und Schlagzeuglinien durch die ständig wechselnden instrumentalen und klangfarblichen Konstellatio­nen: Gong trifft gedämpfte Klaviersaite. Macks Klangaggregate haben eine fast schon szenische Qualität und können durchaus als imaginäres instrumentales Theater gehört werden, das dann als asiatisches Schattenspiel noch zu gestalten wäre. Musiktheatralisch gibt es Mack noch zu entdecken. Warum nicht in Schwetzingen unweit von Speyer?

Seine schillernden Klänge entwickelt er entlang dieser skandierbaren Rhythmen. In „Snells Beach“, benannt nach dem Entstehungsort des Werks in Neuseeland, für Metallschlaginstrumente verbindet er gamelanartige Pattern mit an frühe elektronische Musik erinnernden Gongklängen und des von ihm mitentwickelten Nicophons, 2008 in Basel von zwei Schlagzeugern gebaut. Man könnte es als aus einer gebogenen Metallplatte gesägtes Xylophon oder sehr starre durchschlagende Metallzungen bezeichnen. Obertonreich gleißende und höhlenakustisch irdene Klänge lassen sich damit erzeugen. Die kulturelle Verortung entschwindet in diesem die Chronologie überlistenden und geschickt mit Nähe- und Fernewirkungen arbeitenden Meisterwerk der Sololiteratur für Schlagzeug. Macks Musik ist auch hier komplett frei von jeder Esoterik und Exotik für privatversicherte gestresste Städtebewohner. Kulturelle Polyphonie und Heterogenität sowie durchaus jazzinspirierter Groove – zwei Saxophone im Ensemble! – im klangfarblichen Wandel lassen Herrn Professors Werke immer gegenwärtig, zugewandt und erfrischend unakademisch erklingen. Das auf ihn hervorragend eingestellte und schon viele Jahre mit Dieter Mack arbeitende „Ensemble Selisih“ gibt den Werken an diesem Portraitabend in Speyer die schönste Vitalität, ob schrill, ob leise, ob schwankend oder spieltechnisch und klanglich Grenzen auslotend. In der kleineren Stadt ist es wie von dieser Welt, die eine ist. Mehr vom Komponisten mit den Rheinland-Pfälzischen Roots  bald auf einer Portrait-CD mit dem Studio Musikfabrik. Die können auch schon Mack!
 

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