Wohl dem vom Vergessen bedrohten Komponisten, der einen musikbegeisterten Enkel hat: Stephan Braunfels, als Architekt in München lebend, sorgt unablässig dafür, dass das Werk seines Großvaters Walter Braunfels im Musikleben unserer Tage wieder seinen angemessenen Platz einnimmt. Die Opern von Walter Braunfels sind inzwischen von etlichen Bühnen gespielt worden, zuletzt der „Ulenspiegel“ in Gera, davor die „Jeanne d‘Arc“ in Berlin. Auch die gewaltige „Große Messe“ und das mächtige „Te Deum“ wurden aufgeführt. Jetzt nahm sich das Münchner Rundfunkorchester unter Ulf Schirmers Leitung des zwischen 1933 und 1935 komponierten Mysteriums „Verkündigung“ an. Da Braunfels als Halbjude im Dritten Reich nicht mehr aufgeführt werden durfte, fand die Uraufführung erst 1948 an den Städtischen Bühnen Köln statt, dirigiert von Hellmut Schnackenburg mit Trude Eipperle in der zentralen Partie der Violaine.
Wer das „Mysterium“ besser verstehen will, muss dreierlei beachten. Einmal die literarische Vorlage: Paul Claudels 1911/12 entstandenes Schauspiel „L‘annonce faite à Maria“, eher ein geistliches Spiel, das nach den Absichten des Dichters nicht „gespielt“, sondern „zelebriert“ werden sollte. Wie Claudel wandte sich auch Braunfels erst in späteren Jahren, dann aber umso entschiedener dem katholischen Glauben zu. Claudels „Spiel“ dürfte den Komponisten magisch angezogen haben. Bei der Herstellung des Librettos stand Braunfels in regem Kontakt zu Claudel, der darauf bestand, dass nur die deutsche Übertragung von Jakob Hegner Verwendung finden durfte. Ein dritter Aspekt aber war sicher das politische Umfeld, in dem Braunfels sich förmlich verstecken musste. Seine „Verkündigung“ ist auch ein, damals stummes, Komponieren gegen den geistfeindlichen Terror der politischen Machthaber, dem Braunfels seinen tiefen Glauben entgegensetzte.
Claudels uns heute mitunter recht blumig anmutende Dichtkunst, die sich zwangsläufig auch bei Jakob Hegner wiederfindet, erfährt bei Braunfels eine Relativierung insofern, als das Geschehen um die demütige Violaine zugleich als politische Parabel gedeutet werden kann: Violaine, von Aussatz befallen, von der Gesellschaft ausgestoßen und erblindet, erweckt am Ende das gestorbene Kind ihrer Schwester wieder zum Leben, neugeboren allein aus dem tiefen Glauben, aus der „Kraft der gläubigen Seele“. Das zielte auch auf die damalige politische Unterdrückung.
Bei seiner Komposition konnte sich Braunfels auch auf Claudels quasimusikalische Anmerkungen stützen: Engelschöre, läutende Glocken, Holzklapper bei Erscheinen der Aussätzigen. Es ist erstaunlich, mit welcher Geschmeidigkeit Braunfels für die verschiedensten Situationen der Handlung entsprechende musikalische Gestalten und Ausdrucksmittel findet. Liturgisch strenge Passagen, entmaterialisiert-schwebende Chöre (der Chor des Bayerischen Rundfunks, einstudiert von Stellario Fagone, leistet Meisterhaftes), Orchesterfarben von impressionistischer Delikatesse, psalmodierende Vokalstimmen – alles steht im Dienst einer tiefempfundenen Ausdeutung des Textes: eine Musik, die in ihrer Verhaltenheit unablässig nach innen zu klingen scheint.
Die Münchner Wiederaufführung im Prinzregententheater, vom Rundfunk live übertragen, wurde dem Anspruch des Werkes eindrucksvoll gerecht. Juliane Banse als Violaine, Jannina Baechle als deren „böse“ Schwester Mara, Hanna Schwarz als Mutter, Matthias Klink als Peter von Ulm, Adrian Eröd als Jakobus und in weiteren Partien Robert Holl, Johannes Stermann sowie Vanessa Goikoetxea als Stimme eines Engels: Ulf Schirmer stand ein glänzendes Ensemble zur Verfügung, um die „Verkündigung“ von Walter Braunfels zum „Leuchten“ zu bringen.