Ein Este oder Lette, der nicht singt? Kaum vorstellbar! „Im Baltikum hat das Singen einen hohen Stellenwert“, sagt Gerhard Sammer, Professor für Musikpädagogik an der Würzburger Musikhochschule. Gesungen wird in und nach der Schule, Komponisten der Neuen Musik schreiben Stücke für Schulchöre. Vom Baltikum könnten Musikpädagogen aus anderen Ländern also eine Menge lernen, erklärt der Präsident der European Association for Music in schools (EAS).
Seit einem Jahr steht der Würzburger Musikhochschuldozent an der Spitze der EAS. Musikpädagogische Organisationen sowie Einzelmitglieder aus 30 Ländern arbeiten in dem 1990 gegründeten Netzwerk zusammen. Sich international zu vernetzen, hält der Musikpädagoge für sehr wichtig: „Wir dürfen uns nicht einigeln.“ Musikpädagogik habe, anders als etwa das Fach Mathematik, überall in Europa eine ganz andere Ausprägung. Das zu erfahren und sich davon anregen zu lassen, sei für die eigene Arbeit ungemein bereichernd.
So wurde bei der EAS-Konferenz im März im litauischen Vilnius spürbar, wie außergewöhnlich lebendig die musikpädagogische Szene in den baltischen Staaten ist. Sammer: „Das gemeinsame Singen stellt dort ein hohes Gut dar.“ Überall treffen sich Menschen zum Singen in Chören, wobei die Ensembles eine auffallend hohe Qualität aufweisen. Besonders der Volksmusik kommt eine große Bedeutung zu. Doch die Menschen im Baltikum sind auch für Neue Musik aufgeschlossen. Insgesamt sucht die Musikbegeisterung der Balten dem EAS-Präsidenten zufolge in Europa seinesgleichen.
Europaweit gesehen gibt es ganz unterschiedliche Entwicklungen und Schwerpunkte in der Musikpädagogik. Große Sorgen bereitet der EAS derzeit Spanien. Sammer: „Dort steht die Musikpädagogik mit dem Rücken an der Wand, seit kurzem werden keine Musikschullehrer mehr ausgebildet.“ Bekanntermaßen steckt die spanische Regierung finanziell in der Bredouille. Von daher wird gespart, wo immer es geht. Wegen der prekären wirtschaftlichen Situation erscheint es aktuell überflüssig, weiterhin in die Ausbildung von Musikpädagogen zu investieren.
Streichkonzert in Spanien
Die EAS reagierte auf die Stellenstreichung im Bereich der Musikpädagogik im März 2015 mit der „Granada Deklaration“. Die appelliert, nicht an ein für die Persönlichkeitsbildung so essenzielles Fach wie Musikunterricht zu rühren. Sammer: „Denn wir sind überzeugt von der großen Bedeutung der musikalischen Bildung.“
Bildungspolitisch Einfluss zu nehmen, sei allerdings nicht leicht, räumt Sammer ein. So gab es seitens der spanischen Zentralregierung keinerlei Reaktion auf die Deklaration. Geschweige denn, dass der Sparkurs überdacht worden wäre. Immerhin bedeutet die radikale Streichung in der Ausbildung der Musikschullehrer nicht, dass es nirgendwo mehr Musik-unterricht gäbe. Der Unterricht ist in Spanien, ebenso wie in Deutschland, Sache der Regionen. Zum Glück soll er nicht in allen Gebieten derart radikal zurückgedrängt werden.
Zu den Besonderheiten der Musikpädagogik in England gehört die starke Verbindung zwischen Schulen und Kulturinstitutionen. Hierzulande ist es noch immer keine Selbstverständlichkeit, dass Schülerinnen und Schüler einmal einen Orchestermusiker kennen lernen oder ein Opernhaus von innen sehen. Meist hängt die Kooperation mit einer Kultureinrichtung von der privaten Initiative des Musiklehrers ab. In England wird ein viel selbstverständlicheres Miteinander zwischen Schulen, Musiktheatern und Konzerthäusern gepflegt.
Starkes deutsches Netzwerk
Im deutschsprachigen Raum existiert laut Sammer ein beeindruckend starkes musikpädagogisches Netzwerk mit „riesigen Ressourcen“. In kaum einem anderen Land gibt es so viele Professuren für Musikpädagogik. Wobei allerdings auch in Deutschland nicht alles rosarot zu sehen ist.
So benötigen Grundschullehrer keinerlei spezielle musikpädagogischen Kenntnisse und Fähigkeiten, obwohl sie auch dafür zuständig sind, Kindern die Freude an der Musik zu vermitteln: „Sie müssen nicht einmal im Stande sein, ein Lied zu singen.“ Das sollte sich Sammer zufolge unbedingt ändern. „Es ist ein Problem unseres Systems, dass vor allem in die Ausbildung der Gymnasiallehrer investiert wird“, kritisiert der Professor.
Jedes Frühjahr richtet die EAS in irgendeiner europäischen Stadt eine internationale Konferenz aus. Die erste fand 1990 in Lübeck statt. Im kommenden Jahr wird Salzburg Austragungsort der EAS-Konferenz sein. Im Zentrum soll die Frage stehen, wie Schulen mit außerschulischen Institutionen kooperieren können. Auf der Agenda steht diesmal als Premiere auch ein Treffen der verschiedenen Musiklehrerverbände aus Europa.
Die eigene Arbeit reflektieren
In den vergangenen 26 Jahren stand der wissenschaftliche Austausch im Mittelpunkt der EAS-Arbeit. Dies würde Sammer als derzeitiger Präsident gerne etwas korrigieren: „Es wäre wichtig, auch die Musiklehrer für die internationale Vernetzung zu interessieren.“ Viele wüssten überhaupt nicht, wie in anderen europäischen Ländern Musik unterrichtet wird, welche Kooperationen und Projekte dort erfolgreich auf den Weg gebracht wurden. Dabei sei es sehr bereichernd, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen: „Auf diese Weise reflektiert man seine eigene Arbeit.“
An der Würzburger Musikhochschule sorgt Sammer dafür, dass angehende Musiklehrer früh Feuer fangen für den internationalen Austausch. Jedes Jahr im Herbst organisiert er eine Exkursion in ein europäisches Land. Im Vorfeld der EAS-Konferenz im März 2016 waren die Würzburger Studierenden in Vilnius. Heuer im November steht ein Besuch in Schweden auf dem Programm. Schulen in Lund und Malmö werden sich öffnen und den deutschen Studierenden einen Einblick geben, wie Musik in einer schwedischen Schule an Kinder und Jugendliche vermittelt wird.
Integraler Bestandteil der EAS-Jah-reskonferenzen ist ein Junges Forum, das ebenfalls der Begegnung und dem Austausch angehender Musiklehrer dient. 30 junge Leute aus 15 Nationen treffen sich, um voneinander zu erfahren, wie musikalische Bildung in unterschiedlichen Ländern funktioniert, welche Methoden der Musikvermittlung angewandt werden und welches Repertoire zum Einsatz kommt. Sammer: „Für die Studierenden zählen diese Begegnungen zu den Schlüsselerlebnissen ihrer Ausbildung.“