Michael Naura, geboren 1934 in Klaipeda. Muttersprache Litauisch, Umgangssprache russisch, kam im Alter von sechs Jahren nach Deutschland. Seine multilinguale Biografie tat seiner Sprachgewalt im Deutschen keinen Abbruch – im Gegenteil. Literatur war, beinahe stärker noch als die Musik, immer ein gewaltiger Sog, dem sich Naura, der die großen russischen Schriftsteller im Original gelesen hatte, nicht entziehen konnte und wollte.
„Als wir acht Stunden nachts spielten, da spielte das Schreiben für mich noch keine Rolle. Es war wie ein Zeitzünder in mir eingebaut. Aber als ich mich mehr oder weniger von der Musik verabschiedet habe, da sagte ich: ‚Ah, Mütterchen Literatur!‘ Das ist ein großes Liebesverhältnis.“
Nach dem Krieg studierte Naura Soziologie und Philosophie an der FU Berlin und an der dortigen Meisterschule für Graphik und Buchgewerbe. Zu den wichtigen Einflüssen dieser Jahre zählte der rumänisch-amerikanische Zeichner und Karikaturist Saul Steinberg, dessen Arbeiten er in der Grafikabteilung des Berliner Amerikahauses kennenlernte. „Da fing meine Abhängigkeit von erstklassigen Grafiken an. Ich begann dann auch zu sammeln. Das Zeichnen ist jetzt für mich eine besondere Art der Entspannung. Manchmal lasse ich die Hand so laufen, da wird nicht vorgezeichnet, sondern es passiert spontan, fast nach Jazzer-Art: raus mit dem Zeug auf das Papier.“ Klavierspiel brachte er sich autodidaktisch bei. Seit 1953 arbeitete er mit dem Vibraphonisten Wolfgang Schlüter in unterschiedlichen Jazz-Ensembles zusammen, seit 1966 mit dem Dichter Peter Rühmkorf für ihr legendäres Jazz + Lyrik-Programm. Mit beiden verband ihn eine lebenslange enge Freundschaft.
Die Redakteure des amerikanischen Soldatensenders AFN, American Forces Network, hörten Naura und Schlüter in einem Club. So kamen sie zu einer wöchentlichen Live-Sendung im AFN-Funkhaus, einer Villa in Dahlem. Ein folgenreiches Engagement im Hamburger Club Barrett schloss sich an. NDR-Mitarbeiter wurden auf ihn aufmerksam und man engagierte Naura als Studiomusiker. 1971, nach dem Tod von Hans Gertberg, übernahm er die Leitung der Jazzredaktion des NDR, die er bis 1999 innehatte Der britische Jazzpublizist und Trompeter Ian Carr attestierte Naura „das weitestgespannte und interessanteste Jazz-Programm Europas“. 1976 etwa war es Naura, der als erster ein Konzert des damals noch unbekannten Sängers Al Jarreau für einen deutschen Radiosender mitschnitt und damit für Furore sorgte.
Der Autodidakt am Klavier wurde geprägt von amerikanischen Pianisten wie George Shearing, Dave Brubeck und Horace Silver. Später lernte er den französischen Klarinettisten Michel Portal oder den argentinischen Bandeonisten Dino Saluzzi kennen und schätzen. Die Inkarnation des Jazz war und blieb für ihn Benny Goodmans Version von Gershwins „I got rhythm“ im Carnegie-Hall-Konzert mit Gene Krupa, Teddy Wilson und Lionel Hampton.
Das unaufhörliche Diminuendo des Jazz im Gegensatz zum Pop, das Naura schon als aktiver Redakteur miterleben musste, beschäftigte ihn, der sich sein Leben lang für den Jazz als „freies Spiel unter Beachtung gewisser rhythmischer Haltungen“ einsetzte, sehr. „Es gibt ja so ein Gespenst, das man anbetet, vor dem man kniet, das ist die Einschaltquote. Ich denke, ganz große Sender müssten die Kraft und auch den Stolz haben, manchmal die Einschaltquote auch zu verachten.“
O-Töne aus: Blues-Kadenzen und Choräle, Michael Naura im Gespräch mit Andreas Kolb, JazzZeitung 2003/03, Seite 22