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Das Trio Catch, gegründet von Stipendiaten der Ensemble Modern Akademie, hat sich in wenigen Jahren einen Spitzenplatz in der Neuen Musik erobert, nicht zuletzt wegen seiner ungewöhnlichen Besetzung mit Klarinette, Cello und Klavier. Foto: C. Oswald
Das Trio Catch, gegründet von Stipendiaten der Ensemble Modern Akademie, hat sich in wenigen Jahren einen Spitzenplatz in der Neuen Musik erobert, nicht zuletzt wegen seiner ungewöhnlichen Besetzung mit Klarinette, Cello und Klavier. Foto: C. Oswald
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Auf Spurensuche in den weiten Welten des Klanges

Untertitel
Die Wittener Tage für neue Kammermusik 2014: Scelsi-Spurensuche, Hommage à Philippe Manoury und Arditti Quartet
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Bevor die Wittener Tage für neue Kammermusik ihre musikalische Spurensuche aufnehmen, müssen sie sehr oft eine andere, ganz prosaische Suche beginnen: nach dem Geldstrom, der alles, was erklingen soll, sozusagen bewässert. Es gab in der Vergangenheit schon Situationen, in denen die Finanzierung der Kammermusiktage noch kurz vor Beginn der Veranstaltungen nicht gesichert war. Hauptgrund für solche Engpässe ist die finanzielle Notsituation, in der sich die Stadt Witten, die über ihr Kulturforum als Veranstalter der Tage (in Zusammenarbeit mit dem Westdeutschen Rundfunk in Köln) fungiert, meist befindet. Im Ruhrpott ist Witten nicht der einzige Ort, der sich in dieser Lage sieht.

Das hat mit den strukturellen Veränderungen des Landes zu tun. Die Schwierigkeiten sollen nicht verkannt sein. Aber andererseits kann das nicht bedeuten, dass nun gleich alles, was nicht zum einfachen Lebensnotwendigen gehört, in Frage gestellt wird. Wenn man in den Tagen der Kammermusik liest, dass das Wittener Kulturforum, das Stadt und Umland das ganze Jahr über mit Kultur, mit Theater, Musik, Ausstellungen „versorgt“, das Jugendmusikschule, Pädagogische Hochschule, Chorvereinigungen etc. unterhält, drastische Etatkürzungen vornehmen muss, Personal entlassen und dazu auch noch aufgelaufene Schulden bedienen soll, dann stimmt etwas im ganzen System unserer städtischen Kultur nicht mehr. Die „Geistige Lebensform“ (Thomas Mann), die eine Stadt erst zu einer Versammlung aller Bürger werden lässt, ist heute einer ständigen Erosion ausgesetzt. Dagegenzusteuern ist nicht nur Politiker-, auch erste Bürgerpflicht.

Die Wittener Tage der neuen Kammermusik haben in diesem Sinne in der Vergangenheit zunehmend ihre Arbeit über den experimentellen Bereich der Musik hinaus verstärkt. Man geht mit Veranstaltungen, Performances, Installationen in die Stadt, in die Landschaft, an und auf den Ruhrfluss. Man arbeitet mit Schulklassen zusammen, um diese für die neue Musik zu interessieren, Symposien zu bestimmten Themen werden mit den Universitäten der Region vereinbart. Und die Anwesenheit der vielen Musiker, Komponisten, renommierten Ensembles mit ihren Dirigenten sowie eines neugierigen Musikpublikums aus vielen Ländern, verleihen Witten in dieser Zeit fast ein internationales Flair: Man trifft sich, wie alle Jahre wieder. Und lernt dabei noch gleich die neuesten Kreationen und Tendenzen der Musik der Gegenwart kennen. Für die Stadt selbst bedeuten die Musiktage stets auch einen nicht bezifferbaren Imagegewinn.

Das alles ist zu begrüßen und könnte hier und da noch verstärkt ausgeformt und weiterentwickelt werden – im Zentrum der Kammermusiktage stehen in erster Linie die neuen Werke, die Erkundungen neuer Klanggestalten, Fragen der Umsetzung durch kompetente Interpreten. Damit wäre man bei einem der Schwerpunkte des diesjährigen Programms: Das Arditti Quartet feierte in Witten sein vierzigjähriges Bestehen. In unserer vorigen Ausgabe der nmz (Nr. 5/2014) haben wir Leistung und Bedeutung des Arditti String Quartets ausführlich gewürdigt: Vierzig Jahre im Dienst für die Neue Musik! Harry Vogt, Redakteur für Neue Musik beim Westdeutschen Rundfunk und verantwortlich für das Gesamtprogramm der Musiktage, hatte sich – vermutlich war er es – etwas Sinnvolles als Geschenk ausgedacht: Vierzehn Komponisten wurden gebeten, für die Jubilare etwas dem Anlass entsprechendes zu komponieren, als „Gifts & Greetings“. Irvine Arditti, Gründer und Erster Geiger von Beginn an, kannte eine derartige Tour de force noch von einem anderen Ereignis. Zum neunzigsten Geburtstag des Musikverlegers Alfred Schlee 1992 verfassten 36 Komponisten von Schlees Universal Edition in Wien kurze Huldigungsadressen, von denen allerdings etliche die vorgegebene Länge von drei Minuten weit überschritten, nur Kurtág unterschritt mit zweieinhalb Minuten die erlaubte Dauer. Diesmal holte er die fehlende halbe Minute nach und komponierte auf Samuel Becketts Fragment „Clov’s last monologue“ (aus dem „Endspiel“) drei Minuten Musik, aus der man eine existenzielle Heiterkeit heraushören konnte. Die Ardittis haben in den vierzig Jahren fast alles von Kurtág fürs Streichquartett Geschriebene aufgeführt. Das verbindet.

Nicht alles, was den beteiligten Komponisten und Komponistinnen einfiel, kann hier behandelt werden, manches geriet recht trocken. Wolfgang Rihms „Ein Satzanfang für das Arditti Quartett“, „In Verbundenheit“ betitelt, besaß eine schöne innere Gespanntheit (für drei Minuten), Mark Andres „IV 13a“ (IV für Introvertiertheit) „schwelgte“ eine Minute lang im vierfachen Pianissimo und Brice Pauset gesellte sich in seinem „Wahrheitsverfahren“ mit einem Cembalo den Ardittis zu: ein leichtes, hübsches Stück Musik. Georg Friedrich Haas spielte in „LAIR“ mit den Anfangsbuchstaben der Vornamen der Quartettspieler: Für Lucas, Ashot, Irvine und Ralf (Fels, Sarkissjan, Arditti, Ehlers). Und Brian Ferneyhough benutzte in „Silentium“ ein Choralfragment, in dem der Erzengel Michael den in Gestalt eines Drachen erscheinenden Luzifer besiegt. Das möchte man als Gleichnis nehmen: Ferneyhoughs Partituren müssen den Instrumentalisten oft luziferisch erscheinen, müssen erst einmal besiegt werden. Ein spannendes Stück Musik.    

Mit einem anderen Themenschwerpunkt der Kammermusiktage verband sich ein weiterer Auftritt des Arditti String Quartets: Der französische Komponist Philippe Manoury hatte das „Amt“ des „Composer in residence“ übernommen. Die Ardittis brachten Manourys „Quatuor à cordes No. 3“ zur Deutschen Erstaufführung. Es trägt den Titel „Melancolia“ und ist inspiriert von Albrecht Dürers bekanntem Kupferstich sowie von dem Gedicht „L’Infinito“ von Giacomo Leopardi. Manoury stand vor der Schwierigkeit, etwas von der Spiritualität der Vorlagen in der Musik einzufangen, in der zwangsläufig voranschreitenden musikalischen Bewegung etwas von der meditativen Kraft speziell des Dürer-Bildes zu bewahren. Das ist Manoury erstaunlich gut und überzeugend gelungen. Sein Quartett strahlt in zweiundvierzig Minuten eine wunderbare innere Ruhe aus, ist weiträumig disponiert, kompositorisch sehr dicht gefasst. Die Ardittis spielten alles gewohnt souverän, engagiert und u u mit geistiger Durchdringung. Philippe Manoury wartete noch mit einem zweiten Großwerk auf: „Le temps, mode d’emploi“ ist der Titel einer fünfzigminütigen Komposition für zwei Klaviere und Live-Elektronik, nach den Worten des Komponisten „ein großes musikalisches Fresko über verschiedene Arten und Weisen, die Zeit zu gestalten“. Zu den beiden realen Klavieren treten vier virtuelle, wodurch unendlich viele Klangmöglichkeiten zur Darstellung von Zeitphänomenen durch Musik gegeben sind. Manoury organisiert dies virtuos, ebenso komplexiert wie weiträumig im kompositorischen Gestus. Und wenn die beiden Klaviere dazu noch vom GrauSchumacher Duo sowie die vier „Virtuellen“ vom Experimentalstudio des SWR mit Thomas Hummel und José Miguel Fernandez gleichsam „gesteuert“ werden, dann hält der Zuhörer staunend fünfzig Minuten lang förmlich den Atem an: Manourys „Zeit“-Strukturierungen in acht Abschnitten zeichnet zugleich eine enorme Körperlichkeit aus, eine spürbare physische Wucht.

Musik und Zeit, Musik und Körperlichkeit – thematisch verdichtet wurde das in den zweimal gespielten „Scelsi-Spuren“. Der Kontrabassist Uli Fussenegger, der Posaunist Mike Svoboda, Ernesto Molinari an der Kontrabassklarinette und Martin Siewert an der Lapsteel-Gitarre (siehe unsere Bilder auf der vorigen Seite) betrieben die „Spurensuche“, indem sie in „Scanning 2“ das Original und das daraus entstandene Tonbandstück durch Improvisationen und Interaktionen gleichsam auf eine neue, dritte Ebene hoben, wobei auf irgendwie geheimnisvolle Weise Scelsis Klang-Magie immer wieder durchschimmerte. Das gilt auch für Fusseneggers elektronische Komposition „San Teodoro 8 (un omaggio)“, in der Fussenegger Tonbandaufnahmen von Scelsis Ondiola-Spiel als Impulsgeber für die eigene Verarbeitung benutzte. Der Laborcharakter, der die Wittener Kammermusiktage immer wieder besonders auszeichnet, war hier spannend zu erleben.

Auf Scelsis Tonbänder greift auch der Schweizer Michael Pelzel zurück: „Sculture di suono – in memoriam Giacinto Scelsi“, so der Titel des großen Ensemblestücks, für das Klangforum Wien geschrieben, beeindruckt durch die kompositorische Dichte, mit der Scelsis Ondiola-Improvisationen hier in eine, wie der Komponist sagt, „orgelähnliche Klanglichkeit“ überführt werden, die einerseits Scelsi nicht auslöscht, andererseits aber auch eine große Eigenständigkeit Pelzels gewinnt. In James Tenneys „Scend for Selsi“ für Kammerensemble und Altsaxophon (Gerald Preinfalk) entwickelt sich das sensibel ausgehörte Werk schließlich doch zu einem eher tradierten Konzertstück. Auch Tristan Murail greift in seinem Ensemble-Live-Elektronik-Stück „Un Sogno“ auf Scelsi-Tonbänder zurück, bläst diese aber mächtig auf. Ein bisschen allzu pompös im Klang und in der Gestik.

In diesem letzten Konzert der Kammermusiktage bewies das Wiener Klangforum einmal mehr seine fulminanten Qualitäten, besaß aber auch in Emilio Pomarico einen Dirigenten, dessen Neue-Musik-Kompetenz immer wieder beeindruckt, ja auch: fasziniert.

Um bei Dirigenten zu bleiben: Ein anderer war in Witten Peter Rundel. Auch er eine Autorität, wenn es um Modernes und Schwieriges geht. Rundel leitete ein Konzert des WDR Sinfonieorchesters Köln, das erfreulicherweise bereit scheint, auch nach Witten zu kommen und dafür sogar drei Uraufführungen einzustudieren. Weiter so! Natürlich war es nicht das ganze Orchester, eher eine stärker besetzte Kammerversion, schließlich sind es Kammermusiktage. Philippe Manoury bedachte mit seinen „Trauermärschen“ für Kammerorchester auch dieses Konzert: Eine Kunstform verschwindet, weil es die Herrscher, die sie einst bestellten, nicht mehr gibt. Manoury komponiert dieses Verschwinden, ein wenig zu feuilletonistisch oben hin.
Dann aber doch noch ein „großer Wurf“: Rebecca Saunders' „void“ für Schlagzeugduo und Kammerorchester (siehe Bild oben auf der vorigen Seite). Die Komponistin greift auf den letzten der dreizehn Texte Samuel Becketts zurück: „um nichts“. Diese entstanden in den Jahren 1947 bis 1952. Die Erschütterungen des gerade überstandenen Krieges mögen auch bei dem Dichter Spuren hinterlassen haben.

Sprachlosigkeit, tonloses Vor-sich-hin-Murmeln, Hoffnungslosigkeit, die plötzlich in Wut und Gewalttätigkeit umschlagen. Rebecca Saunders beeindruckt Becketts Kurzprosa durch ihre „große Kraft und Klarheit“. Und in „void“ (wüst, frei, inhaltlos, abwesend, leer) erfindet sie eine Musik, die diese Wortbedeutungen kongenial adaptiert. Klanglinien gewinnen Sprechfähigkeit, Klangfarben werden förmlich sichtbar, Ausbrüche des Orchesters und des Schlagzeugs stehen für „Wut und Gewalttätigkeit“. Knapp zwanzig Minuten währt das Werk, aber es will einem scheinen, dass sich hinter ihm ein ganzer Kosmos ausbreitet – Rebecca Saunders verwandelt sich in Samuel Beckett, taucht ein in dessen Weltsichten. Das WDR-Orchester, Peter Rundel und die beiden Schlagzeuger Christian Dierstein und Dirk Rothbrust, denen „void“ gewidmet ist, laufen zu Hochform auf. Witten 2014: Festivals moderner Musik werden gern mit dem Weinbau verglichen – also: ein guter, ein ertragreicher Jahrgang. Dafür sollten in den kommenden Jahren auch die Gelder bereitstehen. Siehe oben!

Und noch ein Postskriptum: Unser Titelbild auf Seite 1 zeigt die Musikerinnen des Trio Catch. Die Damen Boglárka Pecze (Klarinette/Bassklarinette), Eva Boesch (Violoncello) und Sun-Young Nam (Klavier) präsentierten sich schon zum zweiten Mal in Witten, diesmal mit Werken von Toshio Hosokawa und Clara Iannotta. Vor allem Hosokawas „Vertical Time Study“ mit ihrer Zeitstruktur, den Einschnitten in den Verlauf, ihren quasi-kalligraphischen Zeichensetzungen gelang perfekt. 

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