„Aus der Traube in die Tonne, aus der Tonne in das Fass…“ Den weiteren Weg dieses alkoholhaltigen Getränks säumen, in den Versen des Arztes und Revolutionärs Theobald Kerner, Flasche und Glas, Mund und Schlund. Männerchöre sangen und singen dieses Lied gerne. Lautstark schallt es auch aus über tausend Kehlen über den Römerberg. Wer nur in diesem Moment mit dem Frankfurter Chorfest in Berührung kommt, fühlt sich bestätigt: ja, die einfache, heile Welt der Männerchöre! Markige Lieder, Ehrennadeln am Revers, Vereinsmeierei, ein überlebtes Relikt des 19. Jahrhunderts. Andere schütteln den Kopf: Ist die Zeit wirklich stehengeblieben?
Freilich ist es gar nicht möglich, während der Chorfesttage in der Frankfurter Innenstadt nur einmal mit diesem Ereignis in Berührung zu kommen. Wenn rund 500 Chöre zusammentreffen, verkriechen sie sich nicht in geschlossene Räume, belassen es nicht artig beim Wettbewerb und Konzertieren. Es gibt auch unter freiem Himmel genug Plätze und Gelegenheiten, einfach ein Lied anzustimmen. Ganz verwirrt über so viel deutsche Ausgelassenheit zücken die ortsüblichen japanischen und amerikanischen Reisegruppen ihre Kameras. Oh, great, how nice! Nur die wenigsten werden wissen, dass sie, neben Paulskirche und Kaiserdom, soeben ein weiteres und höchst lebendiges Manifest deutscher Geschichte hautnah erleben. Als die Sänger nämlich vor 150 Jahren in Coburg ihren „Deutschen Sängerbund“ gründeten, waren sie der politischen Einheit ein ganzes Jahrzehnt voraus. Daran (und an andere, soziale, glanzvolle und weniger rühmliche Aspekte des Chorsingens) erinnern einige Schautafeln in der Paulskirche. Aus dem Sängerbund ist inzwischen der „Deutsche Chorverband“ geworden; er gibt sich politisch völlig neutral. Keine Resolutionen, keine Forderungen – Henning Scherf, Präsident des Verbandes, will einfach mit dem werben, was die Sänger (und mittlerweile, natürlich, auch Sängerinnen!) tun: nämlich singen, Spaß haben und Freude machen, auch im Alltag ein bisschen von dem kosten, was am anderen Ende desselben Tuns „Kunst“ heißt. Gesellschafts- und bildungspolitisch verbrämt könnte man sagen: das Miteinander der Generationen und soziale Kontakte pflegen, seine Freizeit sinnvoll und aktiv verbringen. Erhob vor 25 Jahren, bei der 125-Jahr-Feier ebenfalls in Frankfurt, das Jubiläums-Motto „Singen heißt verstehen!“ noch den pädagogischen Zeigefinger, so kalauert die Werbung heute lässig: „Frankfurt ist ganz Chor!“
Lebensgefühl Singen
Singen im Chor hat immer etwas mit Lebensgefühl zu tun. Politisch Korrektes ist hier verpönt. Im gemischten Chor geht es nicht besser und gerechter und emanzipierter zu, als wenn nur Frauen oder nur Männer sich zusammentun. Die Männeransammlung auf dem Römerberg hat insofern auch etwas Selbstironisches. Sie besingt mit Udo Jürgens auch die 66 Jahre, mit denen noch lange nicht Schluss ist. „Reine Männersache“ heißt das von Jürgen Fassbender, Jan Schumacher und Jochen Stankewitz im Peters-Verlag herausgegebene Liederbuch. Gewiss feiern hier grüner Wald und kühler Grund fröhliche Urständ’, aber auch der Fußball kommt vor, Reinhard Meys „Diplomatenjagd“ fehlt nicht, Mann darf sogar unmännlich von Träumen singen und von Situationen des Scheiterns, wie in einem Text von Wise Guy Daniel Dickopf. Dazu natürlich viel Nonsens aus drei Jahrhunderten. Es sind keineswegs nur die Alten, die hier singen. Chorgesang fasziniert auch die jungen Leute, ist wieder „cool“, wie Faßbender und auch Scherf, der sich immer wieder unter die Sänger mischt, es nennen. Viele sind durch die Popmusik sozialisiert – warum solche Songs nicht auch im Chor singen? Dann machen die ollen Kamellen auch mal Spaß!
„Hey Jude, don’t make it bad, take a sad song and make it better“. Der Hit von Lennon/McCartney, auch ein Oldie, eroberte 1968 die Charts. Just in jenem Jahr, glauben Funktionäre, ist die Wurzel allen, nun überwundenen, Übels zu finden. Tatsächlich haben die 68er, die alles besser machen wollten, nicht gesungen, und es bedurfte fast eines halben Jahrhunderts, bis ein Projekt wie „Primacanta“ Frankfurter Grundschülern und ihren Lehrern wieder exemplarisch die Lust am Singen beibringt. Man erlebt es eindrucksvoll bei der Eröffnung des Chorfestes. „Make it better“, schallt es nun ganz wertfrei über den Römerberg, eine Stunde vor den Männern, die ja nur ihren Teil jener Vielfalt präsentieren wollen, die Chorgesang heute bedeutet. Zum größten Beatles-Chor der Welt versammeln sich alle, die mitsingen wollen, ein gigantischer, spontaner Projektchor. Verein – nein danke! Aber hin und wieder in Gemeinschaft singen wollen dennoch viele. So gehört das früher verteufelte „Projekt“ heute zu den Selbstverständlichkeiten der Chorszene. Mit dem einschlägig bekannten „Ich-kann-nicht-singen-Chor“ beweist Michael Betzner-Brandt in Berlin (und auch beim Chorfest in Frankfurt) sogar, dass Singen keine Frage des Könnens ist, sondern eine des Wollens.
Solange jedenfalls, wie es um den Spaß an der Sache geht und um eine machtvolle Demonstration. Die in tausende Ensembles und Orte bis in alle Ecken und Winkel des Landes verteilte Chorszene muss sich auch einmal in großer Zahl zeigen, um unter Beweis zu stellen, dass nicht nur der von den Medien gehätschelte Bundesliga-Fußball Woche für Woche Hunderttausende mobilisiert. Darin besteht ein nicht geringer Sinn des Chorfestes.
Chormusik ist auch Kunst
Natürlich aber ist Chormusik auch Kunst. Und die kommt, wie man gerne sagt, von Können. Sie ist beim Chorfest in den rund 600 Konzerten zuhause, wo das Publikum still sitzen und zuhören muss, was erstaunlich viele Chorsängerinnen und Chorsänger auch tun. Wann hat man schon Gelegenheit, so intensiv über den eigenen Gartenzaun schauen bzw. hören zu können? Das Eröffnungskonzert mit Hans-Christoph Rademanns fabelhaftem RIAS-Kammerchor in der Alten Oper setzte an Stelle von Repräsentation subtile Sätze von Max Reger und Ernst Kreneks eindringliche „Kantate von der Vergänglichkeit des Irdischen“ und bürstete fast gegen den Strich der Feierlichkeit. Ein starker Auftakt für die Nacht der Chöre tags darauf. Ein logistisches Mammutvorhaben, dem die Chormusikfans nur beikommen, wenn sie die Illusion aufgeben, alles hören zu können, was geboten wird. Zumal die in Frankfurt bisweilen weiten Wege einzurechnen sind, dazu Unwägbarkeiten des Terminplans, über die auch das recht unhandlich zusammengestellte Programmbuch nicht hinweghilft.
Im lichten Foyer der IG-Metall-Verwaltung nahe dem Hauptbahnhof singt der Deutsche Jugendkammerchor unter Robert Göstl sanfte romantische Töne, später im Duett mit einem „El Sistema“-Chor aus Venezuela. In der Alten Oper treibt Bertrand de Billy Hundertschaften auf der Bühne und im Parkett an, Mendelssohns Oratorium „Elias“ mitzusingen. Die zentral gelegene Katharinenkirche fasst die Menschen kaum, die Jürgen Fassbenders und Jan Schumachers feine Limburger Männerensembles und Christoph Haßlers preisgekrönten Frauenchor „ex-semble“ hören wollen. Frankfurts Chorfreunde, das merkt man, lechzen nach guter A-cappella-Musik in herausragenden Darbietungen. Diese Kunst ist in der Stadt, die lieber ihre behäbigen Oratorienchöre auf den Schild hebt, weitgehend versiegt. Zumal Chöre wie die nebenan in der Liebfrauenkirche singende exzellente „Claritas vocalis“ (Leitung: Uwe Heller) nicht von sich reden machen, weil sie im Trubel der Bankenmetropole einfach untergehen oder keine guten Auftrittsmöglichkeiten haben. Oder weil Locations wie die Jugendkirche St. Peter, wo an diesem Abend die Jazz- und Popszene groovt, vom breiten Publikum nicht so gut angenommen werden.
Das Niveau der an diesem langen Abend gehörten Chöre ist beachtlich. Auch unter dem Dach des Deutschen Chorverbandes finden sich mittlerweile Spitzenensembles semiprofessioneller Qualität. Obwohl der Verband, so will es die Tradition und die Verpflichtung ihr gegenüber, sich intensiv um die „Breite“ kümmert, er die Gesangvereine auf dem Land also genauso ernst nimmt wie die hedonistisch angehauchte Szene der spezialisierten Vokalensembles. Gerade in der jüngeren Generation wächst die Lust am Singen mit dem Angebot, es besser zu machen, professioneller, mehr und intensiver zu proben, auch etwas für seine Stimme zu tun. Und, soll es denn doch in einem Verein sein, der manche Details der Organisation vereinfacht, Verantwortung zu übernehmen.
Diese Tendenz beeinflusst die Musik an sich. Das „Liedgut“, ein alter Kampfbegriff des Männerchorwesens, weicht zeitgemäßen Worten wie „Literatur“ oder „Chorsatz“ oder einfach „Musik“. Aber es geht nicht nur um die Begrifflichkeit, sondern um das, was sie bezeichnet und auslöst. Der Zugewinn an Stücken aus der Pop-, Jazz- und Musicalszene ist eminent. Wer diese Musik glaubhaft vortragen will, darf nicht mehr auf der Bühne stehen wie die deutsche Eiche. Bewegung, Ungezwungenheit, die sich also bis in die immer heikle Frage der Konzertkleidung äußert, sind angesagt und auf den Open- Air-Bühnen des Chorfestes zu besichtigen. Melancholisch-Klangbetontes oder Mystisch-Esoterisches, wie es aus Skandinavien oder Osteuropa auf uns einströmt, verträgt auf der anderen Seite des Spektrums neue Raumgefühle oder mutig unterstützende Lichtkonzepte.
Sogar die Frankfurter Zeitungen sind voll mit allerlei Berichten über das Chorfest. Manche Kollegen, die gerne die vermeintliche Überalterung des Musikpublikums, den Niedergang des klassischen Konzerts und seiner Rituale beklagen, reiben sich erstaunt die Augen über die Qualität, Vielfalt und Lebhaftigkeit der Chorszene. Hatte drei Wochen zuvor die angedrohte Blockupy-Blockade die Frankfurter den Atem anhalten lassen, lässt das Chorfest, eine machtvolle Manifestation friedlichen Singens, sie aufatmen. Und mitsingen!