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Johanne Saunier in „Thinking Things – A Theater Of The Aberrations Of Robotics“ von Georges Aperghis. Foto: SWR/Ralf Brunner
Johanne Saunier in „Thinking Things – A Theater Of The Aberrations Of Robotics“ von Georges Aperghis. Foto: SWR/Ralf Brunner
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Aufstieg eines Untergehers, Partnerschaft der Maschine

Untertitel
Unerwartetes und Bewegt-Bewegendes bei den Donaueschinger Musiktagen · Von Gerhard R. Koch
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Natürlich unterliegen auch die Donaueschinger Musiktage dem jährlichen Ritual-Turnus – analog zu Weihnachten und Ostern, oder den Bayreuther und Salzburger Opern-Pres­tige-Events. Nietzsches Formel von der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“ findet darin ebenso untilgbar ihre Bestätigung – lapidar lautet sie: „Nichts Neues unter der Sonne!“. Aber was wäre Kontinuität ohne die gelegentliche Abweichung: „keine Regel ohne Ausnahme“. So gab es auch diesmal, verblüffend für den jahrzehntelangen Festival-Pilger, gleich drei unerwartete Neuerungen, eine mehr zum Populären, eine mehr zum Erhabenen hin, die dritte im Zeichen revisionistisch wiedergutmachenden Avantgarde-Archäologie.

Nicht selten standen am Anfang der Programmbücher intellektuell anspruchsvolle Essays zur ästhetischen Situation, Reflexionen zu den aktuellen Festival-Themen wie -Konzepten. Lesen gab zu Denken – ästhetischer Theorie-Diskurs ließ Adorno als Vaterfigur nicht vergessen. Das hat sich nun geändert, der kritische Überbau ist der Trivialkultur gewichen. Diesmal in Gestalt eines „Comic Essays“ von Tine Fetz-Steve Cityhouse, in dem eine skurrile „Neue Musik“-Sozietät in Stadt, Wald und Gebirge nach dem wahren Weg wie Rezept des Fortschritts sucht – geleitet von einem kahlköpfigen Philosophen, unverkennbar Adorno. Milde karikierend, nicht gehässig, mit einigen Insider-Jokes, wird da die Sonderlings-Szene zum Satire-Spiegel. Kein Grund zur Aufregung.

Etwas mehr davon hätte man sich bei der obligaten NOWJazz-Session gewünscht, diesmal nicht in der Berufsschule, sondern in der Christuskirche mit des schwedischen Organisten und Sängers Sten Sandell „borduna heterotopia donaueschingen“: einer alles andere als exzentrischen Orgel-Improvisation, die nur in manchen Amalgamen von Registern und Stimme exterritoriale Farbigkeit gewann. Die Frage, was Jazz oder jazzgemäß ist, wie weit Blues, „Swing“, Anarchie unabdingbar sind, hat ihr Scholastisches. Aber so gepflegte E-Musik-Mus­ter lassen doch die „free“-Momente vermissen. Um Jazz ging es auch bei dem Karl-Sczuka-Preisträger, dem österreichischen Schlagzeuger Martin Brandlmayr und seinem „Vive les fantomes“, der in einer Art Hörstück-Autobiografie Anklänge an Miles Davis, Billie Holiday, Thelonious Monk auch Hitchcocks „Vertigo“ synthetisiert: ein schön austariertes Spiel ohne jegliche „Bewusstseinsstrom“-Entgrenzung à la Joyce.

Ein Einzelgänger als Revenant

Zurück in die Vergangenheit ging es noch in anderer Weise. Eine Podiumsdiskussion thematisierte das ominöse „Vitamin B“, die Macht der Beziehungen auch im Kunstbetrieb, der ohne Kontakte nicht existiert, aber durch Lobbys, Seilschaften mitbestimmt ist. Wobei die Grenzen zwischen realer Gefahr und Verschwörungstheorie fließend sind. Gleichwohl gilt die These, dass Geschichte von „Siegern“ geschrieben wird. „Die im Dunklen sieht man nicht“, die Thomas Bernhard’schen „Untergeher“ bleiben verschwunden.

Einer von ihnen tauchte nun wieder auf: Der Schweizer Komponist Hermann Meier (1906–2002) war ein eigenbrötlerischer Einzelgänger, der als Dorfschullehrer wirkte, unablässig Werke schrieb, die aber trotz Paul Sachers Fürsprache nicht aufgeführt, auch vom SWF zurückgewiesen wurden. Schon früh arbeitete er mit statischen Konzepten, Klangflächen und -blöcken, graphischen, selbst aleatorischen Momenten, in der medialen Vielfalt fast an den Maler-Dichter-Komponisten Adolf Wölfli, ohne dessen obsessive Züge erinnernd. Nun erschien ein veritabler Revenant: sein Konzert für Klavier vierhändig, 1965 von Heinrich Strobel abgelehnt. Vielleicht zweifelte man damals generell an der Existenz relevanter Schweizer Komponisten, denen man die Konkurrenz mit den „Stars“ nicht zutraute. Meiers Musik ist kristallin, antiexpressiv nicht auf dynamische Entwicklung angelegt. In ihren Tendenzen erinnerte sie allenfalls an manches bei Josef Matthias Hauer oder selbst Morton Feldman: ein Künstler zwischen den Stühlen. Die Donaueschinger Uraufführung nach einem halben Jahrhundert war mehr als nur Ehrenrettung, weckte Lust auf mehr von diesem Komponisten.

Philharmonische Totale?

Natürlich stand das Festival wieder im Zeichen des großen Orchesters, dessen Mitglieder erneut wieder ihren eigenen Preis vergaben: an „splinters of ebullent rebellion“ der Schwedin Malin Bång. Die überzeugende Wahl galt einem vitalen Werk, das gesellschaftliche Konflikte sinnfällig werden ließ, nicht zuletzt als konstitutive Kontraste. Da gibt es rasende, schier glissandohafte Kürzelfelder von höchster Heftigkeit, entfesselte Hochgeschwindigkeits-Mechanik, dann wieder brutal kompakte Blockbildungen, aber auch verhaltene Ruhe-Flächen, die dennoch nicht nach „heiler Welt“ klingen. Zudem wird die anarchisch-archaische Tutti-Vehemenz durch zwei extreme Nebenwirkungen konterkariert: Dass das Orchester sich nicht nur als „Apparat“ versteht, wurde deutlich in den Sprechstimmen der Einzelnen. Und als stereophone Kontrapunkte sah und hörte man vier tackernde Schreibmaschinen, für viele akustisch mittlerweile ein exotischer Anachronismus: ein dynamisches Tableau heterogener Tätigkeiten.

In ganz anderer Weise hat Benedict Mason die philharmonische Totale in Frage gestellt, und dies schon in der Verweigerung eines Kommentars mit der obligaten Formulierung „I prefer not to“ von Hermann Melvilles Büro-„Untergeher“, dem „Schreiber Bartleby“. Mason nennt sein Werk „Ricochet“ (Abprall, Rückwirkung), zielt damit auf Hetero-, nicht Homogenität. Kontrabässe und Harfen sorgen für dunkeln Untergrund, doch dann ziehen Geigen- und Flötenformationen durch den Saal, verharren spielend und gehen weiter. Klangereignisse werden nicht verbunden, die Kinetik dient dem Isolationismus der Instrumentengruppen, die schließlich fast altmodisch in höhere Lagen streben. Das Orchester wird dekonstruiert, nicht als traditionell selbstsicheres Ganzes zelebriert. Doch Lust wie Last der Vergangenheit scheinen nach wie vor verführerisch, gleichwohl mehrfach gespiegelt, zumindest gebrochen: Nostalgie wird durch Adaption alter Mittel in neuer Funktion kritisch unterlaufen, und selbst die Verwendung „historischer“ Instrumente dient der Erkundung ungeahnten Terrains. Zwei Beispiele: Ivan Fedeles „Air on Air“ für verstärk­tes Bassetthorn nutzt dieses wie das „begleitende“ Orchester im Sinne wahrhaft pneumatischer Osmose, lebhafter Durchlüftung des Klangapparats, fast scherzohafter Leichtigkeit. Oscar Strasnoy setzt in „Amore“ auf die titelstiftende sanfte Viola d’Amore, die in immer neuen liebevoll sublimen Kürzel-Schleifen das allzu Feste entgrenzt. Via Schallplatte kommen Realitäts-Partikel, doch Interaktion findet nicht statt.

Manchem Fin-de-siècle-Charme huldigten Stücke mit Klavier und Ensemble von Ralf Wallin und Klaus Lang: atmosphärisch poetisch exquisit, anspielungsreich, nostalgisch entrückt. Schumanns „Der Dichter spricht“ schien die Devise; weniger allerdings bei Agata Zubel. Francesco Filidei liebt den Rückgriff auf Formen der Vergangenheit. Seine Ensemble-„Ballata Nr 7“ huldigt, wenn auch verschlüsselt, den Balladen Chopins und Liszts, ihrer Steigerungs-Dramaturgie mitsamt Ruhe-Plateaus. So süffig das funktioniert: So leicht lässt sich Thomas Manns neunzehntes Jahrhundert, „leidend und groß“, nicht revitalisieren.

Gesellschaftskritik

Ansonsten stand das Programm im Zeichen vielfacher Grenzüberschreitung, sei es zum Politischen sei es zum Multimedialen, darin auch zur Technik. Schließlich hatte der Physiker und Philosoph Friedrich Dessauer schon 1927 prognostiziert: dass es kein Kunstwerk (mehr) gebe, das nicht auch eines der Technik sei. So oder so ergab sich eine tendenzielle Gabelung in gesellschaftskritisch „engagierte“ Kunst und die der immer perfekter organisierten elektronischen Equipment-Virtualität. So standen am deutlichsten zwei Werke von Isabel Mundry für einen brisant bedrängenden Gegenwartsbezug, die darin unvermeidlich in die Dialektik von ästhetischer Autonomie und gesellschaftlicher Anteilnahme gerieten. „Mouhanad“ ist ein syrischer Flüchtling, mit dem sie ins Gespräch kam, das sie aufzeichnete und als Basis für eine vokalästhetisch avancierte Komposition für das SWR Vokalensemble nahm, die das klingende Bild einer deprimierenden Situation vermittelt, in dem bedrückender Inhalt und artifizielle Verarbeitung widersprüchlich bleiben (müssen?). „Hey“ greift das Münchner Attentat von 2016 auf, verschränkt die Selbstdarstellung des Täters mit den Hass-Tiraden der Anwohner zum Horror-Tableau. Die Sphären des mehrfach Schrecklichen und des Ästhetischen werden weder getrennt noch synthetisiert. Das Dilemma bleibt. Einfach entrinnen kann man ihm nicht. Sich ihm, wie auch immer, zu stellen, ist freilich dringlicher als die schöne Selbstgenügsamkeit des hohen Kunstanspruchs.

Equipment-Virtualität

Ansonsten ging es um multimedial elektronische Nutzung, ja Selbstentfaltung der Apparatur bis hin zur sogar technischen Panne. Filmisches wurde immer wieder angesprochen, am explizitesten von der italienischen Gitarristin Alessandra Novaga in ihrer „Fassbinder Wunderkammer“, einer Hommage allerdings weniger an diesen als mehr an seinen Hauptkomponisten Peer Raben, dessen Musik sie aufgriff und zwischen Gefühlslaut und Krassheit nachinszenierte; wobei das Equipment diese chaotischer als wohl beabsichtigt verstärkte. Als entschieden gelungen hingegen erwies sich Marco Stroppas „Come Play with Me“ mit seiner Fusion eines hocheffizienten Orchesters mit einem nicht minder suggestiven elektronischen „Solo“-Part in Gestalt einer Lautsprecher-Säule: schlüssige Synthese von „realem“ und „künstlichen“ Musikmachen. Die eher brachialen Klang-Explorationen und -Eruptionen von Eudardo Moguillansky und Koka Nikoladze sorgten in gegensätzlicher Weise für vehemente Interaktion von Bruitistischem in Spiel wie Lautsprecher.

Die Kooperation von Kunst und Technik führt unvermeidlich in die Frage wechselseitiger Abhängigkeit. So ist in Kubricks „2001“ nicht mehr auszumachen, wer wen zu steuern vermag: der Kosmonaut den Computer „Hal“ oder umgekehrt. Auch in Steve Spielbergs „Artificial Intelligence“ und „Minority Report“ sind Individuum und Roboter in ihren Funktionen kaum mehr zu trennen. Mensch und Maschine werden zu modern-mythischen Doppelwesen.

So gesehen waren Georges Aperghis „Thinking Things“ sowohl im programmatischen Doppel-Sinn als auch in der überaus suggestiven Realisierung der Höhepunkt des Festivals: Probe aufs Exempel des auf die interaktive Spitze getriebenen Machtkampfs zwischen Individuum und digitaler Allmacht. Vier Performer, samt robotischer Erweiterung, führen eine Art virtuellen Slapstick vor einer Wand mit kinetischen Durchblicken und Video-Schirmen auf, wobei reale Arme und Beine mit quasi-Prothesen alternieren, live und virtuell verschmelzen. Musik, Theater und Film fusionieren wie in den besten  Werken Kagels. Und auch an die Theatergruppe um Giorgio Barberi Corsetti und ihre Kafka-Choreo-graphien fühlt man sich erinnert. Aperghis ist ein kühl-burleskes Pandämonium aus dem Ircam-Zauberreich gelungen, in dem seine Musik eine entscheidende, aber nicht isolierte Bedeutung gewinnt.

Den anderen audiovisuellen Höhepunkt bildete Brigitta Muntendorfs „Ballett für Eleven“, das in anderer Weise konträre Welten verschränkt: mythischer Video-Waldspaziergang, Paar-Prozession, surreale Metamorphosen von Mensch und Instrument, das Ensemble Modern als Horror-Gang weißperückiger Klone. Körper, Klänge, Aktionen und Bilder erscheinen hier permanent gekreuzt: zur bunten „Schwarzen Messe“. Der leicht morbid-buffoneske Live-Anteil wirkt gegenüber der ungemein perfektionistischen Aperghis-Ästhetik ein klein wenig widerständiger. Trotzdem entsteht keineswegs der Eindruck einer womöglich immer noch deutsch-romantischen, wagnerianisch überwältigend identifikationsheischenden Espressivo-Ästhetik.

Donaueschingen 2018 jedenfalls war alles andere als eine Manifestation dogmatisch geschlossener Kunstanschauung, öffnete vielmehr weit die Fenster in verschiedenste Richtungen.


Fünf Klanginstallationen waren im Rahmen der Donaueschinger Musiktage 2018 zu erleben. Auf einem abwechslungsreichen Sound-Spaziergang konnte man sich von Younes Baba-Alis Kugelschreiberklicken nervös machen lassen, dem blinkenden LED-Stadtplan Magdi Mostafas folgen, Zimouns motorbetriebene Konstruktionen bestaunen oder dem „iiiuuiii“ und „uuiiiuu“ der bolivianischen und neobolivianischen Klanggefäße lauschen, die Carlos Gutiérrez Quiroga und Tatiana López Churata im Fürstlich Fürstenbergischen Park aufgebaut hatten. Weniger klanglich denn als rätselhaft-eindringliche Performance überzeugte die Taiwanesin Liping Ting mit „WATER – TIMING“, einem physischen Grenzgang zwischen Ritual und politischer Aktion. Fotos: Juan Martin Koch

Das nmzMedia-Team war auch in diesem Jahr wieder für die Donauschinger Musiktage unterwegs. Die Blogvideos mit Proben- Konzert- und Installationsimpressionen sowie O-Tönen der Komponistinnen und Komponisten sind zu sehen unter: www.nmzmedia.de

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