Wenn ich nach der Motivation gefragt werde, warum ich mein Leben mit Musik verbringe, komme ich häufig auf die Sonate op. 111 von Ludwig van Beethoven zu sprechen. Sie hat in meiner Entwicklung als Pianist und Mensch eine entscheidende Rolle gespielt.
Mein Lehrer an der Hannoveraner Musikhochschule, Professor Kämmerling, traute mir das Werk im zarten Alter von 17 Jahren zu. Auf diese Weise habe ich schon früh durch dieses zentrale Werk der gesamten Musikliteratur gespürt, in welch ungeheure, unbeschreibliche (trotz der vielfältigen Versuche von Thomas Mann bis Kundera) und zutiefst mystische Welten Musik vordringen kann. In der Arbeit an dieser Sonate – Beethovens letzter – habe ich so viel über das Leben, über Transzendenz und, wie ich finde – und das ist sehr persönlich – über Gott nachzuspüren gelernt wie in keinem anderen Werk. Es erhebt sich in meiner Ansicht dadurch über jedes andere gewöhnliche „Musikstück“.
Beethoven war einer der wenigen in der Menschheitsgeschichte, der mit seinem Genius jenseits aller Alltäglichkeit die Wahrheit des Daseins und des Jenseitigen wirklich umfassen und erfahrbar machen konnte. Natürlich spreche auch ich hauptsächlich von dem Wunder der Arietta, des „Adagio molto semplice e cantabile“, das bereits so viele Genies zu Deutungen herausgefordert hat, und das eben doch letztlich völlig „unbeschreibbar“ bleibt (Thomas Mann), da es sich der konkreten Darstellung durch Worte entzieht. Diese Offenbarung folgt einem höchst ungewöhnlichen, wilden ersten Satz, der sich in dialektischem Spannungsverhältnis zum zweiten befindet. Im rhythmischen Stil einer französischen Ouvertüre beginnt die Sonate, die von Anfang an freilich nur rudimentäre Verbindung mit jeglicher Konvention pflegt. Schon nach nur fünf Takten des eröffnenden Maestosos beginnt ein mehrtaktiges Suchen und harmonisches Irren und Meditieren, das erahnen lässt, in welch wundersame Welten die Sonate führen wird. b-Moll, es-Moll, Des-Dur und As-Dur sind nur einige der Stationen, die – Hoffnung suchend – schon so kurz nach Sonatenbeginn durchlaufen werden. In Takt 10 ist die Entscheidung für die Finsternis gefallen, was sich in den Folgetakten durch den Fatalismus des repetierten „G“ äußert, unterstützt durch das für Beethoven typische Sforzato auf eigentlich unbetonten Zählzeiten. Die „Gs“ münden in ein Pianissimo-Tremolo, das Donnergrollen, das sich in der wilden Verzweiflung des „Allegro con brio ed appassionato“ entlädt. Joachim Kaiser spricht zu Recht von einem „wilden, kalten Feuer“, das hier entfacht wird. Der immer erneute Versuch, in Polyphonie anzusetzen, der immer wieder scheitert beziehungsweise vom Feuer und der Verzweiflung zunichte gemacht wird, ist gleichsam psychologisch zu deuten: Der Sturz in den Abgrund, der durch die Macht des Geistes, des Bewussten, gebändigt, aufgehalten werden soll. Den kurzen Momenten der Ruhe gelingt es nicht, Vertrauen auszustrahlen, immer bleibt das Getriebene im Hinterkopf. Wichtig meiner Ansicht nach für die Interpretation: Das Tempo darf nur nachgeben, wenn Beethoven es ausdrücklich vorschreibt! Also beispielsweise noch nicht in den Takten 50 und 51, die gewissermaßen zum Langsamerwerden einladen. Dieser Versuchung darf erst im Takt danach (Vorschrift „meno allegro“) nachgegeben werden! Der Wahnsinn dieses Satzes mündet erst zum Ende in ein resigniertes C-Dur (eigentlich ein Wiederspruch in sich), das erschöpft versinkt. Wieder scheint es mir wichtig, dass man als Interpret nicht in gemütliches Auslaufen verfällt. Exaktes Halten des Tempos ist wohl kaum möglich, wenn der Schluss in seiner klanglichen Besonderheit und dem gewissen Abschiedsschmerz in den Akkorden der rechten Hand gelingen soll, allerdings sollte der Puls der Bewegung erhalten bleiben und nicht in bewusstem Ritardando verloren gehen.
Was macht nun den folgenden Variationensatz so einmalig? Einige der meines Erachtens entscheidenden Elemente seien erwähnt, wie schon gesagt, ohne auch nur annähernd das Wunder in Worte fesseln zu wollen.
Schon dem Thema ist ein wunderbares Schwingen immanent, auf das sich der Interpret absichtslos einlassen muss und das sich dann als beflügelnde und beglückende Konstante durch den fast 20-minütigen Satz zieht. Diese Absichtslosigkeit (ausgedrückt in der Vortragsbezeichnung „molto semplice“) ist meiner Ansicht nach überhaupt das schwierigste interpretatorische Problem, da es sich in keinster Weise erzwingen lässt. Gleich einer Meditation kommt man dem beglückendsten Ergebnis umso näher, je mehr man sich von allem löst: von den Ansprüchen an expressives Spiel, von „Gefallenwollen“ oder „Rüberkommen“ im Konzert, von aller Ich-Bezogenheit. Wenn man dies beim Üben immer wieder versucht, kommt man – wenn es gelingt – in eine Art Trance-Zustand, bei dem die Musik nur noch durch einen hindurchfließt, ohne dass man sie in irgendeiner Weise „verbiegt“. Ein Grund wohl, warum die ganz großen Interpretationen dieses Adagios häufig durch ältere Pianisten erfolgt sind, die durch ihre Erfahrung imstande waren, diese ungeheure Ruhe auch auf der Bühne zu verwirklichen.
Das erste Motiv ist Keimzelle des gesamten Satzes. Das Schwingen intensiviert sich in den folgenden Variationen, es scheint, dass Beethoven versucht, immer zwanghafter dem Geheimnis des Arietta-Themas auf die Spur zu kommen (vgl. die sehr schöne Deutung in Milan Kunderas „Das Buch vom Lachen und Vergessen“). Die rhythmischen Einheiten des Schwingens werden von Variation zu Variation immer dichter. Schließlich entlädt sich die gestiegene Spannung in einer irrwitzigen „rhythmischen Extase“; die Variation, die Strawinsky – meiner Ansicht nach zu Unrecht, obwohl der Vergleich sich so aufdrängt – die „Boogie-Woogie-Variation“ genannt hat. Warum ist der Beethoven’sche Wahnsinn dieser Stelle nicht mit Boogie-Woogie vergleichbar? Weil Boogie-Woogie eine gelöste, ausgelassen fröhliche Tanzmusik ist, Beethovens Variation in dem zugegebenermaßen vergleichbaren Rhythmus (und das Anfang des 19. Jahrhunderts!) hingegen ist der Gipfelpunkt der Verzweiflung, dass sich die so einfache Arietta, die nicht von dieser Welt ist, nicht fassen lässt, dass sich die Zeit nicht im Glück des Anfangs anhalten lässt, sondern – auch im seligen Schwingen der Anfangsvariationen – unfassbar bleibt. In dieser berühmten dritten Variation scheint es, als würde eine Schallmauer durchbrochen, und unvermittelt sind wir in eine Welt katapultiert worden, die sicher nicht mehr die unsere, irdische ist. Vergleichbares hat es vorher in der Musikgeschichte wohl nie gegeben, und auch nach Beethoven gibt es nur in seltensten Ausnahmefällen Musik von solch visionärer Kraft, wie etwa in besonderen Momenten bei Mahler.
An dieser Stelle setzt, wieder auf der Grundlage des eigentümlichen Arietta-Schwingens, ein Atmen auf den Synkopen ein, vergleichbar einer Lunge, die sich aufbläst und wieder entspannt. Die Musik scheint sich in ein Kreisen um sich selbst aufzulösen, zunächst im Bass und schließlich in „schwindelerregender Höhe“ (Mann) im Diskant, wo die rechte Hand unaufhörlich repetierte pianissimo-Glockenklänge der linken Hand umspielt. Dies ist der Moment, der mir immer wieder die Gewissheit (nicht nur die Vermutung) gibt, dass es Höheres geben muss als das, was wir im Diesseitigen erleben. Es ist der Moment des Einblicks, der Offenbarung. Erklären lässt sich nichts mehr, der Genius des späten Beethoven lässt es uns ganz klar spüren. Nach dieser Ungeheuerlichkeit kommen wir nur langsam wieder zu uns; das erste dynamische Aufblühen nach minutenlangem (und unendlich scheinendem) pianissimo, ist wie eine Umarmung der ganzen Welt und ein Dank für den gewährten Einblick in die Ewigkeit. In einer bewegenden Coda nimmt das Arietta-Thema dann Abschied. Und es ist – wie Thomas Mann sagt – „die Sonate an ihr Ende geführt, ihre Bestimmung ist erreicht.“
Thomas Mann: Doktor Faustus, Stockholm 1947
Milan Kundera: Das Buch vom Lachen und vom Vergessen, Frankfurt a. M. 1983
Joachim Kaiser: Beethovens 32 Klaviersonaten und ihre Interpreten, Frankfurt a. M. 1975
Diskografie
Beethoven: Klaviersonaten Nr. 28–32, Claudio Arrau, Philips 468912
Beethoven: Klaviersonaten op. 10, Nr. 1 und op. 111, Lars Vogt. EMI 5561362