Das Thema „Musikjournalismus“ als Institution der Auseinandersetzung mit Musik ist alt. Die Kontroversen dazu reißen nicht ab. Die Bedeutsamkeit musikjournalistischer Tätigkeit reicht von präpotenter Scharfrichterinnenmentalität bis hin zur Bedeutungslosigkeit solcher Äußerungen. In dieser Spannweite spielen sich solche musikalischen Diskursfragen nicht erst seit gestern ab. Da ist es vielleicht hilfreich, ein paar Schritte zurückzutreten und das Spielfeld des Musikjournalismus überhaupt erst einmal in seinen Dimensionen neu aufzufalten.
Schon die Frage zu beantworten, wer denn Rezipient von Worten zu, in und über Musik sei, bereitet enorme Schwierigkeiten. Ist es eine Salonteilnehmerin, die Komponistin, die Veranstalterin, die Musikerin, die (Musik-)Wissenschaftlerin, die andere Kritikerin, die Zuhörerin, die Abwesende, der Fan, die Liebhaberin, die Kennerin? Mit wem also rede ich?
Dimensionen und Parameter
Oder was ist überhaupt Gegenstand musikjournalistischer „Diskurse“? Ist es die „Musik“, die „Technik“, der „Text“, das „Bild“, das „Ambiente“, die „Zeit“, der Ort, das Konzept, der Diskurs selbst, der Diskurs über den Diskurs, die Institution (Veranstaltung, Wettbewerb etc.…)? Über was also spreche ich überhaupt?
Welches Medium wird verwendet? Das Gespräch nach dem „Konzert“ (oder davor oder währenddessen), die Publikumszeitschrift, die Fachzeitschrift, die Tageszeitung, ein Blog (privat, institutionell), der Rundfunk, das Fernsehen, die Diskussionsrunde? Auf welche Weise also spreche/schreibe ich?
Wer ist die Autorin? Die Wahrnehmung von Diskursen ändert sich mit denjenigen, die darin involviert sind? Eine Kollegin (Komponistin, Performerin), eine Klein- oder Großkritikerin, eine Wissenschaftlerin, ein Fan, eine Liebhaberin, eine Kennerin, eine Unbedarfte, eine Fachfremde, eine Journalistin, kognitive Leistungsfähigkeiten durch Lern- und Erfahrungsstufen jeweils miteingerechnet (Kinder, Jugendliche, Erwachsene – Tätigkeitsfelder) ? Wer also redet (und mit wem) und mit wem auch ausdrücklich nicht?
Schließlich münden Mixturen dieser Fragen in Fragen zur Motivation, weshalb man überhaupt musikjournalistisch sich äußern will und kann, verbunden mit der Frage danach, wer die Medien und die Teilnehmerinnen der „Diskurse“ finanziert. Und damit auch verbunden, Fragen nach der Wahrhaftigkeit (Validität, Authentizität, Reliabilität), Gelenktheit der Diskursteilnehmerinnen (Stichworte: Auftrag, Selbstausbeutung, Selbstvermarktung, Subvention, Framing etc.…)? Wer also ermöglicht die freie oder gebundene Rede?
Das alles beschreibt einige Parameter auf unterschiedlichen Dimensionen, die natürlich in Mischformen existieren können und es wohl auch regelmäßig tun. Es handelt sich um einen steten Strukturwandel, bei dem die Parameter sich laufend ändern. Man wird sich das wie in einem multidimensionalen System vorstellen müssen, deren Dimensionen (hier die oben formulierten Fragen) durch die Parameter jeweils bestimmt werden. Jetzt kommt es darauf an, entsprechende Cluster zu bilden, die genügend Gemeinsamkeiten aufweisen, um die Teilnehmerinnen an die jeweiligen „Diskursfelder“ zu binden. Wenn diese zu eng sind, werden die Zirkel jeweils klein sein, wenn sie zu groß sind, wandern die Teilnehmerinnen möglicherweise ab: Der größte gemeinsame Nenner ist da zu suchen, auch unter Einbeziehung der Fachfremden, aber Randinteressierten.
Konkurrenzen / Wettbewerb
Das alles wäre zu ergänzen durch eigenständige Bewegungen von musikjournalistischen Konkurrenzen untereinander, also auch durch die Schaffung von Diskurshoheiten – ästhetische, politische und persönliche Feindschaften unter den Diskursteilnehmerinnen (Komponistinnen, Wissenschaftlerinnen, Publika und Kritikerinnen – ja, das gibt es durchaus): „Seiltanz“, „MusikTexte“, „Positionen“ als strenge Periodika der Neuen-Musik-Szene plus und versus Anstalten des Öffentlichen Rechts (Rundfunk), weitere Musikfachzeitungen (NZfM, nmz), Tageszeitungen, andere Periodika („Musik und Ästhetik“, „Merkur“ etc.…), Online-Magazine (VAN, terzwerk, niusic), wissenschaftliche Begleithefte, Veranstaltungsreader etc. …), Blogs (Bad Blog Of Musick) oder wissenschaftliche Analysecluster plus eigeninitiative Unternehmungen (wie Podcasts – zum Beispiel Irene Kurkas Podcast „neue musik leben“).
Daher ist es ein wenig naiv, wenn man beispielsweise sagt, dass im Bereich Musik potenziell fast alle Menschen einholbar wären. Sie sind es nicht, die Bedarfe der Zirkel sind unterschiedlich und ändern sich mit der Veränderung des ganzen Gewebes musikjournalistischer Tätigkeiten. Gerade im doch weniger nischenbehafteten Bereich der Popularmusik sind in diesem Jahr zwei Zeitschriften eingestellt worden („Intro“ und „Spex“). Noch um das Überleben kämpft „Melodie und Rhythmus“. Andererseits gibt es immer noch eine Unzahl von Nischenpublikationen mit gar nicht so geringer Auflage in den einzelnen Pop-/Rock-/Kulturgenres. Ein Blick in die öffentlich-rechtlichen Rundfunkprogramme belehrt einen über deren in den letzten 50 Jahren immer weitergehende Auffächerung in mehr und mehr Wellen bei gleichzeitiger Einschränkung kultureller Themenbereiche. Bei all diesen Bewegungen wird man aber feststellen können, dass sich die musikalische Vielfalt auf Seiten der Produktion nicht unbedingt verengt hat (die Anzahl der Urheber hat in den letzten 50 Jahren zugenommen, Studiengänge sind erweitert worden etc.). Ein verwirrendes Phänomen: Ausdifferenzierung führt zu Auflösungsprozessen. Man kann also auch mit Recht behaupten, für die Produktionsmenge und -vielfalt sind die Diskursverluste womöglich irrelevant – oder die Diskurse haben sich nur zersplitternd verlagert.
Vergiftete Alternativen
Musikveranstalter bemerken dies und reagieren bisweilen mit einer neuen Strategie. Sie liefern neben den musikalischen Ereignissen gleich deren musikjournalistische Aufarbeitung zur kostenlosen Nutzung in den Medien mit. Mit unabhängigem Musikjournalismus hat das nichts mehr zu tun. Aber es ist verständlich, wenn man sich auf diese Weise Gehör verschaffen will.
Musikjournalismus ist vielfältig und einfältig zugleich. Auch wenn der Deutsche Musikrat kürzlich erst feststellte, dass die Musikberichterstattung in den Feuilletons der Tageszeitungen zirka 26 Prozent ausmacht, kann die Zahl nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Feuilleton insgesamt eher schrumpft statt wächst – und das, obwohl der Bedeutung von Kultur für die Konstitution unserer Gesellschaft immer stärkere Bedeutung zukommt. Ob im Kulturkampf des politisch extrem-rechten Spektrums oder beim Entertainmentbedarf einer an YouTube orientierten Jugend, auf die beispielsweise der öffentlich-rechtliche Rundfunk mit seinen „Funk“ genannten Internetangeboten zu reagieren versucht.
Schönreden hilft leider aber auch nichts: Wenn Musikjournalistinnen nicht von ihrer Arbeit leben können, ist dies im Kern als Abstimmung mit den Füßen zu werten: Musikjournalismus, gern gesehen, wird aber potenziell als überflüssig angesehen.