Die Pianistin Edith Kraus startete im Januar von Israel aus eine Europareise nach Schwerin, Hamburg, Berlin und London. Nach Aufgabe ihrer Weigerung Deutschland zu betreten, besuchte sie nach 74 Jahren erstmals wieder Berlin, die für sie auch heute noch symbolträchtige Stadt, in der sie zwischen 1926 und 1930 bei Artur Schnabel in der Meisterklasse studierte. Sie war dort Ehrengast auf Einladung des Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse, Schirmherr des Schweriner Projekts „Verfemte Musik“, anlässlich der Gedenkstunde des Bundestages zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar. Die Reise führte schließlich nach London, wo Edith ihre wichtigste Freundin Alice Herz Sommer endlich wieder sah.
Ihr privates und musikalisches Schicksal verbindet diese großen Persönlichkeiten. Beide verloren die Familie mit wenigen Ausnahmen und mussten miterleben wie ihre Männer nach Auschwitz deportiert wurden. Für die Geschichts- und Musikforschung sind sie von großer Bedeutung, da sie persönlich mit den Komponisten Viktor Ullmann, Pavel Haas, Gideon Klein, Hans Krasá und Karel Reiner aus der Prager Zeit und in Theresienstadt sehr gut bekannt waren. Viktor Ullmann schätzte beide Pianistinnen sehr. Alice wurde die 4. Sonate gewidmet, Edith spielte die Uraufführung der 6. Klaviersonate in Theresienstadt.
Beiden verhalf das Klavierspielen zum Überleben, trotz unwahrscheinlichen Glücks, von den Transportlisten nach Auschwitz gestrichen zu werden und damit der Deportation zu entkommen. Nach dem Krieg konnten sie nach Israel auswandern und waren später Kolleginnen an den Musikakademien in Tel Aviv und Jerusalem. Alice Sommer übersiedelte 1986 nach London zu ihrem Sohn Raphael. Der international gefeierte Cellist und Dirigent Raphael Sommer war als Kind mit in Theresienstadt inhaftiert. Er wurde 1995 im Auftrag der Jeunesses Musicales Deutschland musikalischer Leiter der Kinderoper Brundibár, die in Berlin, Warschau und Prag weltweit beachtet sehr erfolgreich aufgeführt wurde. Alice Herz Sommer musste im November 2001 den Tod ihres Sohnes ertragen, der auf einer Israeltournee plötzlich und völlig unerwartet verstarb.
Da sitzen sie nun nebeneinander auf dem Sofa in der Wohnung von Alice Herz-Sommer im schönen London- Hampstead und freuen sich wie die Schneeköniginnen über ihr Wiedersehen: Die 90-jährige Edith Kraus bei der 100-jährigen Alice. Im November hat Alice ihren Geburtstag in großem Stil gefeiert, aber Edith hatte schon lange vorher den Entschluss gefasst, die Freundin erst nach dem Trubel und dann ganz in Ruhe zu besuchen, um beider Geburtstage zu begehen. Am auffälligsten an den beiden Damen sind ihre unterschiedlichen Temperamente, die bestimmt immer auch Motor dieser außergewöhnlichen Freundschaft gewesen sind. Alice ist von einer sprudelnden Lebhaftigkeit, die ihre ganze Umwelt mitreißt, und Edith ist dazu der ruhende Gegenpol, schweigend, nachdenklich sinnierend.
Edith lacht und sagt, dass Alice schon immer so gewesen sei, sich überhaupt nicht verändert habe, denn auf die Frage, ob sie sich an ihre erste Begegnung noch erinnern könnten, ruft Alice: „Ja und ob! Ich hab von ihr gewusst. Sie kam zu mir, der um zehn Jahre älteren Pianistin, um mir Martinú vorzuspielen. Sie sollte im Konzert drei Tänze von ihm spielen und hatte erfahren, dass ich diese bereits im Konzert gespielt hatte.“ Aus diesem besonderen Verständnis von Kollegialität konnte sich eine Frauenfreundschaft fern von Neid und Missgunst entwickeln. Alice findet es noch heute „entzückend“, dass Edith damals ihren großen Hund zu ihr mitbrachte. „Wie hieß er doch gleich?“ „Pucki!“ „Ach ja, Pucki!“ Dieser Hund wurde ihr 1939 von den Nazis weggenommen, da es Juden verboten war, Haustiere zu halten. „Du warst schwanger -“ erinnert Edith sich. Noch zwei Jahre blieb das Leben in Prag normal. Die beiden Frauen trafen sich regelmäßig privat, tauschten sich aus und spielten nur zum Vergnügen vierhändig Klavier. Klavierduos waren damals noch nicht so populär. Und sie besuchten gegenseitig ihre zahlreichen Klavierabende in Prag, in denen sie auch viel zeitgenössische Klavierliteratur interpretierten.
Die Elternhäuser von Edith und Alice waren deutschsprachig. Natürlich beherrschte man auch Tschechisch. Einst hatte Alice ihre Mutter gefragt, als sie vom Spielen mit anderen Kindern nach Hause kam: „Mutter, was sind wir eigentlich? Deutsch, jüdisch oder tschechisch?“ Alice fährt fort: „Und die Mutter hat sehr intelligent gesagt: ‚Ich weiß es nicht‘.“ Diese Erinnerung macht die Situation deutlich, in der die Juden in Prag lebten. Nach dem Einmarsch der Deutschen durften jüdische Künstler nicht mehr öffentlich auftreten. Es entwickelte sich ein reges Hauskonzertleben. Auch Alice und Edith veranstalteten und spielten zahlreiche solcher Hauskonzerte, zu denen sie gegenseitig nicht mehr kommen konnten, da sie zu weit voneinander entfernt wohnten und es ihnen im Zuge der zunehmenden und unzähligen Repressalien verboten war, nach 20 Uhr auf der Straße zu sein. Daher lud man hauptsächlich Freunde aus der direkten Nachbarschaft ein. Zu Alice kam manchmal der Komponist Viktor Ullmann. Sie kichert und erzählt, dass er den Damen immer formvollendete Handküsse gegeben habe. Edith, die ihn erst in Theresienstadt näher kennen lernte, ist überrascht. „Ob er sich das wegen der veränderten Lebensumstände abgewöhnt hat?“ „Der gelbe Stern und der Abtransport meiner alten Mutter, das waren die Tiefpunkte in meinem Leben. Ich musste sie lassen, mit einem Rucksack auf dem Rücken und habe nie wieder irgendetwas von ihr gehört.“ Alice fiel nach der Deportation ihrer Mutter in eine tiefe Depression. Aus der gelang es ihr sich selbst zu befreien, indem sie begann täglich bis zu fünf Stunden alle Etüden von Chopin einzustudieren.
Nach Theresienstadt
Und dann im Juli 1943 kam das Unvermeidliche. Drei Tage wurde Familie Sommer in einer großen Halle festgehalten. „Drei Tage als meine innere Vorbereitung auf das Kommende. Angesichts tausender Matratzen und den Aborten unter freiem Himmel wusste ich, was auf uns zukommen würde. Ab jetzt werden wir nicht mehr wie Menschen behandelt.“ Edith Kraus wusste es bereits. Sie war mit ihrem Mann Karl Steiner schon ein Jahr vorher nach Theresienstadt deportiert worden. Sie hatte ihren ersten Klavierabend schon längst hinter sich. Ihr Koffer mit den Noten war gleich nach der Ankunft unauffindbar und so spielte sie praktisch unvorbereitet und auswendig ein Programm mit Bach, Mozart, Chopin, Brahms und Smetana. „Eine unerhörte Leistung“, findet ihre Freundin Alice, „und erinnerst du dich an die Kollegin, die unbedingt das Italienische Konzert von Bach spielen wollte? Aber es gab doch zuerst überhaupt keine Noten im Lager. Und da hast du ihr gesagt, sie solle dir ein paar Tage Zeit geben, du würdest es ihr aus dem Kopf aufschreiben. Ja, und das hast du dann gemacht!“ Edith blickt verträumt vor sich hin und sagt: „Ich glaube, das könnte ich heute noch aufschreiben.“
Irgendwie alterslos sitzen die beiden Freundinnen beisammen. Edith erinnert sich besonders gut an die Konzerte mit Werken von Beethoven und an jene legendäre Abende mit den Etüden Chopins, die Alice in Theresienstadt gab, währenddessen sich Alice besonders an Ediths Bach-Programm erinnert, das aufgrund großer Nachfrage sechzehn Mal wiederholt werden musste. Was war eigentlich das Besondere am Konzertieren in Theresienstadt? Da sind die beiden sich sehr einig. Das Publikum sei ein sehr besonderes gewesen, Konzertgänger aus Amsterdam, Prag, Wien, Warschau, Berlin. Die seien in die Konzerte gekommen und hätten gewusst, was gut ist. Sie waren alt, krank und verhungert, man habe Ihnen dort geholfen. „Es war ihre Nahrung, aber auch unsere Nahrung.“
Und Alice sinniert: „Der Mensch braucht nicht Essen, er braucht nur einen Inhalt. Und das kann die Musik sein. Nicht die Malerei und nicht der Goethe mit dem Shakespeare, denn die Musik macht uns vergessen. Zeit existiert dann nicht mehr. Man hört, und speziell in einer schwierigen Situation ist man verzaubert, in einer anderen, in einer besseren, hoffnungsvolleren Welt.“ Überhaupt seien Musiker privilegierte Menschen. „Auch wenn sie es schwer im Leben haben. Sie haben die Musik immer in sich, bei Tag und bei Nacht. Und niemand kann sie ihnen nehmen. Na ja, das wissen Sie ja selbst.“ Die Tage, an denen man wusste, dass man abends spielen würde, sei man eigentlich glücklich gewesen. Auf die Frage, woher sie es erfuhren, erinnern sich beide an eine Frau Deutsch aus Berlin, die im Auftrag der so genannten „Freizeitgestaltung“ die kulturellen Wochenpläne ausarbeitete und zur Kenntnisnahme aushing. So erfuhr man, wann man wo zu spielen hatte. „Es war sehr gut organisiert“, stellen die Künstlerinnen fest. „Es sollte eigentlich auf der ganzen Welt so gut organisiert sein.“ „Wir haben für jedes Konzert ein Stückchen Margarine bekommen. Das habe ich dem Kind gegeben“ und plötzlich wird klar, was es heißt, als Mutter mit Kind im Konzentrationslager zu sein.
Die Freundinnen haben sich gegenseitig sehr als Stütze empfunden. Gemeinsam mussten sie in der Glimmerspalterei arbeiten. Jede bekam ein Stück durchsichtige Kohle, das mit einem kleinen Messerchen in hauchdünne Blättchen gespalten werden musste. Vorher und nachher wurde es gewogen, Gewichtsverlust wurde nicht toleriert. „Für mich aktiven Menschen ein wirkliches Trauma“, meint Alice. „Soviel habe ich mit keinem Menschen in meinem ganzen Leben geredet wie damals mit der Edith.“ „Worüber?“, wollen wir wissen.
Alice hat besonders Ediths ruhige und tröstende Art gebraucht, währenddessen Edith die Gespräche über Musik besonders geschätzt hat. Gemeinsam wurden sie am 8. Mai 1945 befreit.
Nach Israel
Ihre Männer hatten sie verloren, der kleine Raphael hatte überlebt. Zurück in Prag hatte Edith das Glück, eine neue Familie zu gründen. Sie heiratete 1947 ihren zweiten Mann Arpad Bloedy und sie bekamen eine kleine Tochter. Voneinander wissend wanderten beide befreundete Familien 1949 nach Israel aus. Alice zog nach Jerusalem und Edith ging nach Tel Aviv. Beide wurden Gründungsmitglied der Akademien in ihren jeweiligen Wohnorten. Vom ersten Moment an kam Alice häufig übers Wochenende mit ihrem Kind zur Freundin nach Tel-Aviv. Beide erinnern sich noch gut an die anfänglich fast unüberwindbar scheinende Sprachbarriere und an die klimatische Umstellung.
37 Jahre später entschließt Alice sich zu ihrem Sohn und seiner Familie nach London überzusiedeln. Die Freundinnen vermissen sich die ersten Jahre sehr. Sie telefonieren häufig, schreiben sich viel, und immer wenn die Sehnsucht zu groß wird, reist Edith nach London, Alice reist schon länger nicht mehr. Und so auch jetzt: Es gibt soviel zu erzählen, wenn sich zwei Menschen in 67 Jahren so intensiv erleben, wie diese beiden.