Die bessere Musikkritik ist der Nachruf. Die besten Musikkritiken, die Gerhard Rohde geschrieben hat, sind seine Nachrufe. Anders als die Kritik verschmäht der Nachruf beckmesserisches Nörgeln im Detail. Beim Abfassen des Nachrufs blättert vielmehr ein in sich ruhender Hans Sachs in der Stadt- und Weltchronik der Sänger-, Dirigenten- und Instrumentalistenkarrieren, erinnert sich an Sternstunden wie Debakel in Opernhäusern oder Konzertsälen und bilanziert mit ruhiger Hand ein Musikerleben.
Die bessere Musikkritik ist der Nachruf. Die besten Musikkritiken, die Gerhard Rohde geschrieben hat, sind seine Nachrufe. Anders als die Kritik verschmäht der Nachruf beckmesserisches Nörgeln im Detail. Beim Abfassen des Nachrufs blättert vielmehr ein in sich ruhender Hans Sachs in der Stadt- und Weltchronik der Sänger-, Dirigenten- und Instrumentalistenkarrieren, erinnert sich an Sternstunden wie Debakel in Opernhäusern oder Konzertsälen und bilanziert mit ruhiger Hand ein Musikerleben.Rohdes Nachrufe durchweht fast immer ein melancholischer Zauber. Das liegt nicht unbedingt an der Trauer über den Verblichenen. Es ist mehr noch Rohdes eigene Schwermut da- rüber, dass mit dem betreffenden Künstler wieder ein Stück der vertrauten Kunst-Welt weggebrochen ist. Jenes Rohde’sche Elysium besteht aus Tausenden von Aufführungen, die er seit seiner frühen Jugend gesehen und gehört hat. Dieser Erfahrungsschatz ist seine Stadt- und Weltchronik. Sie ist vollkommener und wertvoller als jede Musik-Enzyklopädie. Und sie speist sich aus einer Tradition künstlerischen Vollkommenheitsstrebens, das Rohde im heutigen Opern- und Musikbetrieb immer weniger zu finden glaubt; wenn Aufführungen denn doch nicht ganz unheikel oder gar debakulös geraten, kann Rohde in einer tagesaktuellen Kritik der heilige Zorn pa-cken. Gerade in seinen Nachrufen dagegen trüben weder Hass noch Liebe das abschließende Urteil, das er über einen Künstler fällt.Die Nachrufe sind abgeklärt, enthalten oft überraschende Details und Offenbarungen post mortem über die betreffende Person, manchmal auch kleine Indiskretionen. Sie sind nie liebedienerisch, denn Rohde verschweigt die Schwächen der Dahingeschiedenen nicht, auch wenn er es versteht, Fehler und Fehlleistungen in subtile Formulierungen zu fassen. Zu einem Nachruf gehört es, dass er in kürzester Zeit, manchmal nur in Minuten, geschrieben werden muss. Rohde hat, soweit bekannt, nie für den „Giftschrank“ Nachrufe vorgefertigt. Für ihn gehört es zum Verständnis der Kritikertätigkeit, dass seine Beiträge möglichst in der letzten Minute – oder auch noch danach – auf den Weg in die Druckerei gebracht werden, um frisch und authentisch zu wirken.
Jeder Text, den Rohde verfasst, muss zuerst die Unentbehrlichkeitsprobe bestehen: Wenn der Redakteur schließlich kapituliert, weil Rohde auch in der allerallerletzten Minute noch nicht geliefert hat, ist es der Gegenstand oft tatsächlich nicht wert, dass über ihn berichtet wird.
Die Liste der von Rohde nicht geschriebenen Beiträge ist lang. Manche von ihnen sind seine vielleicht besten Texte. Rohdes Nedbal-Biografie bezieht einzig aus dem Mysterium des Nichtgeschriebenseins ihren hohen Rang. Mit seiner ausgeklügelten Hinhaltetaktik, den „Point of no return“ bei der Unentbehrlichkeitsprobe herauszufinden, hat Rohde manchen Redakteur schon zur Verzweiflung gebracht.
Bei Nachrufen hilft keine Ausflucht. Sie müssen so schnell wie möglich geschrieben werden. Die Unentbehrlichkeitsprobe besteht in diesem Fall nur in der Überlegung, ob die betreffende Person eines Nachrufs überhaupt würdig ist und ob in der aktuellen Ausgabe der Zeitung oder Zeitschrift noch Platz ist oder Platz frei gemacht werden kann. Ist die Entscheidung gefallen, können Rohde selbst die herrlichsten kulinarischen Lockungen nicht verführen. Er beginnt unverzüglich zu schreiben.
Man möchte, wenn es nicht zu frivol wäre, noch vielen Musikern wünschen, dass ihnen Nachrufe von Rohde beschieden sind, weil ihre Leistung auf diese Weise der Nachwelt so einfühlsam wie von keinem anderen deutschen Kritiker überliefert wird. Sich selbst würde Rohde vermutlich nur mit einem eigenen Nachruf gerecht. Einem nicht geschriebenen, selbstverständlich.