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Bildung nicht Zufälligkeiten überlassen

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Gespräch mit Gerd Eicker,
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Seit 1971 führt der Verband deutscher Musikschulen, VdM, jedes zweite Jahr einen Kongreß durch. Der 14. Musikschulkongreß 1997 tagte in Karlsruhe und behandelte das Thema „Neue Wege in der Musikschularbeit“. Mit dem VdM-Vorsitzenden Gerd Eicker sprach nmz-Redakteur Andreas Kolb. nmz: Die Mittel der Kommunen und Länder für die Musikschulen werden knapper, private Anbieter treten als Konkurrenten auf. Hat der Kongreß neue Wege für die Arbeit der Musikschule aufzeigen können? Eicker: Die „Neuen Wege in der Musikschularbeit“ sind ein bundesweites Evaluationsverfahren des VdM gewesen, um herauszufinden, welche Wege die einzelnen Musikschulen beschreiten, um ihre Situation besser bewältigen zu können. Die Umfrage wurde dann in den „Arbeitshilfen“ dokumentiert. Wir haben uns die besonders nachgefragten Ideen aus dem Buch herausgegriffen und haben damit diesen Kongreß gestaltet. Das heißt, diese „Neuen Wege“ sind von einzelnen Schulen bereits beschritten. Und sie sind nach unserer Überzeugung so interessant, daß sie unbedingt viele kennen sollten, um zu überprüfen, ob das auch für sie neue Wege sein könnten. Das heißt nicht, daß wir jetzt die Musikschulen neu aufbauen und alles, was wir bis jetzt gemacht haben, beiseite schieben würden. Das zentrale Anliegen der Musikschule ist noch immer, möglichst viele Kinder und Jugendliche an Musik, an den aktiven Umgang mit Musik, mit Instrument oder Stimme, heranzuführen. Dieser zentrale Auftrag muß mehr denn je verfolgt werden. Doch dazu reichen die Wege, die wir bis jetzt gegangen sind, nicht mehr aus. nmz: Der Oberbürgermeister von Karlsruhe und ehemalige Präsident des Deutschen Städtetages, Gerhard Seiler, betonte in seiner Ansprache zum Kongreß, daß er die musikalische Grundversorgung weiterhin als primäre Aufgabe der Musikschule einstufe. Und auch die Unterstützung der Länder und Kommunen werde in diesem Aufgabenbereich weiterhin da sein. Fakt ist aber, daß derzeit immer mehr freie Anbieter auf den Markt drängen. Wie reagieren die Musikschulen des VdM darauf? Mit mehr Marketing? Eicker: Sicherlich auch. Denn wir haben erkannt, daß wir in der Vergangenheit zwar sehr viel Gutes getan haben, aber nicht genug darüber gesprochen haben. Vor allen Dingen es nicht verstanden haben, andere über uns sprechen zu lassen: „Seht doch mal, was die Musikschulen da machen.“ Wenn wir das erreicht haben, dann haben wir damit sicherlich weniger Probleme. Die zentrale Frage ist, daß auf der Ebene der politischen Entscheidungsträger zu wenig gewußt wird über das, was Musikschule eigentlich tut und worin ihr Auftrag besteht. Und nur deswegen passiert es an einzelnen Orten, daß eine Kommune sagt, das kann auch der Private machen, und dann brauchen wir nichts mehr zu bezahlen. Das heißt, daß hier die Musikschule offensichtlich versäumt hat, die Notwendigkeit, die Unentbehrlichkeit einer öffentlich-rechtlichen Einrichtung für musikalische Bildung darzustellen und klarzumachen. Bildung gibt es nicht zum Nulltarif. Es kann doch nicht angehen, die Zukunft unserer Gesellschaft, denn das ist unserere Jugend, wirtschaftlichen Zufälligkeiten zu überlassen, so daß man sagt: „Na ja, Bildung, sehen wir ‘mal, wer es am billigsten macht, und der kann es ja mal probieren. Was daraus wird, interessiert uns dann nicht mehr.“ So geht’s nicht. Ich gehe nicht mit Alten, Kranken oder Behinderten so um, dann kann ich auch nicht mit Jugendlichen so umgehen. nmz: Aber es muß sich doch was ändern. Bei einer Kongreßveranstaltung sagte beispielsweise ein Musikschulleiter: „Wenn ich jetzt gute PR und Werbung für meine Schule mache, dann kriege ich mehr Schüler, dann brauche ich mehr Lehrer, und in der Folge benötige ich wieder mehr Zuschüsse.“ Ist das nicht ein Teufelskreis? Eicker: Das ist eine Frage des Strukturwandels. Ich habe als Landesvorsitzender vor fünf Jahren in Baden-Württemberg den Strukturwandel einmal eingeläutet. Wir müssen mit dem vorhandenen Lehrerpotential mehr Schüler erreichen; und das hat einen Doppeleffekt: a) der pädagogisch gewollte, nämlich die Musikalisierung von Vielen, und b) wenn ich mit demselben Lehrerpotential mehr Schüler unterrichte, habe ich natürlich auch eine wirtschaftliche Verbesserung der Schule. Diese Situation bedeutet aber, daß ich wieder mehr investieren muß in die Lehrerfortbildung. Ich muß sehr intensiv mit meinem Kollegium arbeiten, damit das sich erst einmal als geschlossenes System versteht und natürlich ein lernendes System wird. Es gibt heute eine ganze Menge Musikschulen in Deutschland, die keine Schwierigkeiten haben. nmz: Ist die Musikschule, so wie sie ist, in einer Krise? Oder wird die nur herbeigeredet? Denn es steht fest, daß Musikschulen 1997 gerade etwas über 1.000 Schüler mehr haben als ein Jahr vorher. Eicker: Die Musikschulen sind nicht in der Krise. Es gibt einzelne Musikschulen, die sich in der Krise befinden. Dazu ist dann der Verband da, um diesen Schulen zu helfen, und man kann einem Schulträger nur empfehlen: Wendet euch an euren Fachverband und laßt euch da beraten, laßt euch eure Strukturen analysieren, laßt euch eine Fachempfehlung geben, denn jede Schule ist - wenn man es geschickt anstellt - zu retten. Es muß keine Schule zumachen. Wir haben eine Krise der öffentlichen Hand, das ist richtig. Und wir haben noch eine andere Krise, und die halte ich für viel schlimmer. Das ist die Krise des gesellschaftlichen Bewußtseins, die Krise des politischen Bewußtseins. Wo setzt die Politik die Schwerpunkte? Wir haben eine bestimmte Menge an Geld, diese Menge ist zu verteilen. Die Menge ist geringer geworden, und jetzt beginnen die Probleme. Im Zusammenhang mit Musikschulen spricht man gerne von öffentlichen Mitteln als von Freiwilligkeitsmitteln, weil sie nicht gesetzlich festgeschrieben sind. Und ein Kollege hat so schön gesagt: „Diese Freiwilligkeitsleistungen sind so freiwillig wie bei der Freiwilligen Feuerwehr. Die Gesellschaft muß sich vor Brandgefahr schützen, also schafft sie eine Feuerwehr an. Sie installiert eine Berufsfeuerwehr, die ist sehr teuer, oder sie macht eine Freiwillige Feuerwehr und setzt hier auf Freiwilligkeitsleistung. In diesem Fall kommt die Freiwilligkeitsleistung von den Menschen, die als Feuerwehrleute dienen. In unserem Fall ist im Bereich Bildung auch eine Freiwilligkeitsleistung da, aber diese Freiwilligkeitsleistung liegt nicht - wie man zunächst denken möchte - bei der öffentlichen Hand, sondern sie liegt bei den Eltern. Die Eltern zahlen freiwillig ein hohes Maß an Grundgebühr. Da liegt die Freiwilligkeit, und die Kommune und das Land haben die Pflicht, die komplementären Mittel zu stellen. Es tat sehr gut, daß Herr Seiler sagte, der Deutsche Städtetag wäre für die Drittellösung, das wäre natürlich für uns die Idealform. Tatsache ist hier in Baden-Württemberg, daß sich das ehemals vorbildliche Land auf dem Rückzug befindet. Das ist für mich unbegreiflich. nmz: Da verstehen Sie etwas ganz anderes unter Freiwilligkeitsleistungen als die öffentlichen Hand. Doch es gab doch auch Signale von Seiten des Bundesjugendministeriums? Eicker: Das hat mich sehr gefreut, diese Signale zu hören. Das Problem ist natürlich, daß aufgrund der Kulturhoheit der Länder die Musikschulen, was die Landesförderung betrifft, sich in reiner Länderkompetenz befinden und hier vom Bund aus nur dringende Appelle und Empfehlungen erfolgen. Das Bundesministerium hilft uns natürlich als Fachverband ganz gewaltig, Mittel wiederum unseren Schulen zur Verfügung zu stellen, damit diese ihren individuellen Weg finden. nmz: Hat die Bestandssicherung der Musikschulen Vorrang vor dem Wachstum? Eicker: Das eine schließt das andere nicht aus. Unter Bestandssicherung verstehe ich, daß den Musikschulen nicht plötzlich der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Durch Schließungsbeschluß oder Ähnliches. Das ist die Bestandssicherung, daß die Schule als solche weiter besteht. Sie besteht aber nur sauber weiter, wenn sie selber darauf achtet, daß ihre Qualität gesichert bleibt. Das ist die Aufgabe jeder einzelnen Schule. Und darüber haben wir uns auf dem Kongreß unterhalten, wie man dieses bewirken kann. Das schließt nicht aus, daß die Schule wächst. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. nmz: Nun zum pädagogischen Teil des Kongresses. Was ist die wichtigste Tendenz unter den neuen Wegen, die der Kongreß thematisierte? Eicker: Es gibt mehrere Tendenzen. Eine davon ist es, offener zu werden innerhalb eines Kollegiums. Ein Beispiel von mehreren ist der multidimensionale Instrumentalunterricht (siehe Artikel im Dossier). Aber das geht noch viel weiter. Kinder wie auch Eltern müssen das Gefühl bekommen, daß ihr Kind nicht nur zum Lehrer X geht, sondern in „die“ Musikschule und das diese Schule eben ein System darstellt, in dem das Kind - durchaus auch von mehreren Lehrern - eine umfassende musikalische Bildung erhält. Das ist das, was eine Musikschule ausmacht. Das ist der Kern, dafür braucht man Musikschulen. Eine weitere Tendenz: Die Lehrer oder Kollegen müssen entsprechende Wege gezeigt bekommen, wie man das machen kann. Dazu können beispielsweise Theater und Musiktheater sehr hilfreich sein, oder auch Projekte, die man einmal in den Ferien ansetzt, und in denen Leute außerhalb des üblichen Unterrichtsalltags miteinander arbeiten. Ein wichtiger „neuer Weg“ ist die Auseinandersetzung mit den Medien, die uns umgeben. Dazu zählen der Computer oder die CD-ROM genauso wie das Fernsehen, Videoclips oder CDs. Da kann man nicht vorbeisehen, das muß man nutzbar machen. Das heißt nicht, daß ich mir das Cello nun unter den Hals oder das Kinn klemmen muß, um damit eine neue Haltung auszuprobieren, aber warum soll ich mich denn nicht einmal einer CD bedienen, wo Stücke in drei verschiedenen Tempi gespielt werden, wenn gerade mal kein Klavierspieler zur Verfügung steht? Technik ist kein Teufelswerk, sondern ich kann es mir nutzbar machen, um meinen Auftrag zu erfüllen. Und das alles bewußter zu machen in verschiedenartigen Projekten, war auch Aufgabe dieses Musikschulkongresses. nmz: Ist dann der Kongreß eine Art Schau der Möglichkeiten der Musikschule? Eicker: Das wäre mir zu eng. Die Musikschule hat noch mehr Möglichkeiten. Hier sind doch nur 26 Arbeitsgruppen gewesen, ein kleiner Ausschnitt. Wir haben versucht, für jeden - für die Kollegin von der Früherziehung, für den Gitarristen, den Geigenlehrer - für jeden etwas zu machen. Doch damit sind längst nicht alle Möglichkeiten, die allein eine einzige Musikschule hat, dokumentiert. nmz: Was bedeutet die Musikschule für das kulturelle Leben einer Gemeinde? Eicker: Die Musikschule ist eine Bildungseinrichtung, die vernetzt sein muß mit allem, was in einer Kommune Musik macht, also mit den Vereinen sowie der allgemeinbildenden Schule. Heute machen beispielsweise Musikschullehrer Fortbildung für Grundschullehrer. Die wenigsten Städte haben ein eigenes Theater, ein eigenes Orchester. Mit den Musikschulen - und das war eben vor fünfzig Jahren noch nicht so - haben sie Fachleute für Musik in der Stadt. Dieses Potential müssen die Kommunen nutzen, um das Musikleben in der Stadt entsprechend zu gestalten. Die Musikschulen wiederum müssen zeigen, daß sie nutzbares Potential darstellen. Wenn man das alles zusammennimmt, dann wird kein Mensch mehr sagen können, Musikschulen sind vielleicht privatisierbar oder gar verzichtbar. Wenn ein Bundestagsabgeordneter sagt, wir haben die Post privatisiert, jetzt können wir auch die Musikschulen privatisieren, dann kennt er nicht den Auftrag der Musikschulen. [nmz1997/nmz9707/dossier/vorlage.htm]

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