Die Liste liest sich wie das „who is who“ der europäischen Profichorszene: Ars Nova Copenhagen, Choeur de chambere accentus, Cappella Amsterdam, Collegium Vocale Gent, Cor de Cambra del Palau de la Música, DR Vokalensemblet, Eric Ericsons Kammarkör, Helsingin kamarikuoro, Latvijas Radio Koris, Musicatreize, Nederlands Kamerkoor, Det Norske Solistkor und nicht (nur alphabetisch) zuletzt der RIAS Kammerchor als einziger deutscher Vertreter. Sie sind auf dem Markt Konkurrenten um die Maßstab setzenden Einspielungen, geben sich bei den großen Festivals die Klinke in die Hand, arbeiten mit den größten Dirigenten unserer Zeit. Da „concurrere“ aber nicht nur „um die Wette laufen“ heißt, sondern im ursprünglichen Sinne „zusammen laufen“, haben sich diese 13 Ensembles auf den Weg gemacht, eines ihrer Herzensanliegen gemeinsam zu verfolgen: die Pflege und Verbreitung, auch die Belebung der zeitgenössischen Chormusik und einer zeitgemäßen Chorpräsentation.
Tenso nennt sich dieses europäische Netzwerk für professionelle Kammerchöre, das 2003 von den Dirigenten Laurence Equilbey und Daniel Reuss gegründet wurde. Es hat seinen Sitz in Amsterdam, von wo aus die rührige Koordinatorin Babette Greiner die europaweiten und durchaus weltweit ausstrahlenden Aktivitäten koordiniert. Man arbeitet in verschiedene Richtungen, um eine möglichst breite und nachhaltige Wirkung zu erzielen. Spannend an dieser Zusammenarbeit ist vor allem auch die in den einzelnen Ländern jeweils doch sehr unterschiedliche Situation und vor allem Tradition. Jeder an Chormusik Interessierte weiß, dass der Stellenwert zeitgenössischer Werke im Repertoire sehr unterschiedlich ist. Zwar haben die oftmals an Rundfunkanstalten angebundenen Profichöre meist entweder einen öffentlich-rechtlichen Auftrag oder eine selbst auferlegte künstlerische Verpflichtung, Zeitgenossen aufzuführen, besonders aber im Bereich auch der semiprofessionellen und noch mehr der ambitionierten Laienchöre geht die Schere in Europa doch weit auseinander. Die Gründe sind vielfältig und können hier nicht ausgeführt werden. Tenso jedoch hat es sich zur Aufgabe gemacht, aus den positiven Erfahrungen in einzelnen Ländern heraus in den anderen ähnliche Bewegungen anzustoßen.
Die Workshops für junge Komponisten beispielsweise haben das Ziel, ein Gefühl für das Schreiben für die Stimme zu etablieren und Kenntnisse über vokale Machbarkeit oder auch spezifische klangliche Wirkungen zu vermitteln. Zwar gibt es in einigen europäischen Ländern eine gewachsene Tradition, in der aktive oder ehemalige Chorsänger sich dem Komponieren verschreiben, und selbstverständlich gibt es dort eine dementsprechend stimmkompatible und von den Chören gerne übernommene große Menge an zeitgenössischen Werken. Das „Instrument Chor“ aber auch denjenigen nahezubringen, die selbst keine oder wenig vokale Erfahrung haben, ist die Hautaufgabe dieser Begegnungen der Mitgliedschöre mit den Nachwuchskomponisten, die zuletzt im Oktober 2012 in Stockholm bemerkenswerte Ergebnisse hervorgebracht hat. Aus überraschend vielen Bewerbern wurden für die nächste Runde im Mai 2013 die allesamt im Jahr 1987 geborenen Eugene Birman (LV/US) Jamie Man (NL) und Mátyás Wettl (HU) ausgewählt.
Man will aber nicht nur neues Repertoire anregen, sondern vor allem auch die Musik des späten 20. und des gerade begonnenen 21. Jahrhunderts verbreiten. Hierzu wird ein Internetportal erstellt, das nicht nur Titel und Komponisten benennt, sondern das diverse Hilfen für die Auswahl wie auch für die Erarbeitung bereitstellt. Denn ein Grundanliegen des Netzwerks der Profis ist es, die ambitionierten Laien und hier insbesondere die jungen Chöre und Chorleiter aufmerksam zu machen und für zeitgenössische Chormusik zu begeistern. In Planung ist auch ein groß angelegtes Projekt, das sich mit Musik in zeitlichem und/oder inhaltlichem Bezug zur für Europa so entscheidenden Zeit des Ers-ten Weltkriegs beschäftigen soll. Der Zugang zu zeitgenössischer Chormusik gelingt häufig über konkrete Lebensbezüge oder eine Bezugnahme auf existenzielle Ereignisse und Themen – hier möchte man abseits bereits wieder ausgetretener Pfade neue Wege aufzeigen.
Die größte Hürde, sich diesem Literaturfeld zu widmen, liegt für die meisten nicht- (semi-)professionellen Chöre in der Angst vor den technischen Schwierigkeiten. Nicht selten gilt ungewohnt Notiertes sofort als unsingbar, obwohl manch klassische Partitur schwerer perfekt auszuführen ist als Cluster oder improvisierende Teile – die Macht der Gewohnheit jedoch verstellt hier den objektiven Blick. Um möglichst vielen jungen Sängerinnen und Sängern diese Vorurteile und Ängste zu nehmen und sie mit dem nötigen Rüstzeug für die Realisation auch ungewöhnlicher Partituren auszustatten, werden künftig Sommercamps stattfinden, in denen ausgewählte junge Choristinnen und Choristen mit Profis zusammen singen und lernen können. Es dürfte für die jungen Leute, die das Glück haben, hierfür ausgewählt zu werden, eine bahnbrechende Erfahrung sein, neben Kolleginnen und Kollegen zu sitzen und zu singen, für die Vierteltöne beinahe täglich Brot sind. Und sicher relativiert sich der Blick auf die Schwierigkeiten auch dadurch, dass selbst Profis manche Dinge neu lernen oder schlichtweg üben müssen. Sobald Programm und Termine feststehen, werden diese für 2013 ausgeschrieben und sind im Internet nachzulesen.
Eine dritte Linie verfolgt man, indem man unmittelbare Partnerschaften zwischen den Mitgliedschören und Jugendkammerchören aufzubauen versucht. „Lernen von den Profis“ könnte diese Initiative überschrieben sein, die ganze Ensembles fit und motiviert machen möchte für die Herausforderungen neuer Chormusik. Auch eine Zusammenarbeit mit Hochschulen wird dabei zukünftig angestrebt, da es den Initiatoren von Tenso weniger um kurzfristige Effekte als um eine nachhaltige Pflege dieses speziellen Bereiches der Chormusik geht.
Unter der Internet-Adresse www.tenso-vocal.eu finden sich alle Informationen zu den Ausschreibungen für die Projekte sowie Kontaktadressen, die Beratung in Sachen zeitgenössischer Chormusik anbieten.