Ende August hat der neugegründete Bundesjugendchor unter der Leitung von Anne Kohler in der Berliner Philharmonie sein Gründungskonzert im Rahmen des Musikfests Berlin gegeben. Anlass für einen Blick zurück auf den Entstehungsprozess und einen Blick voraus auf das Potenzial des neuen Ensembles.
Für mich war der Titel ‚Alpha & Omega‘ ein wenig Programm“, sagt Anne Kohler, Professorin für Chorleitung an der Hochschule für Musik Detmold und künstlerische Leiterin des neugegründeten Bundesjugendchores. In der Tat ist die Idee eines Anfangs und Endes für das Gründungskonzert des Bundesjugendchors an diesem wunderbaren Konzertabend in vielerlei Hinsicht präsent.
Zähes Ringen bis zur Gründung
Da gilt es zum einen an das Ende des Deutschen Jugendkammerchors zu erinnern, der sich im Laufe seines 20-jährigen Bestehens unter Robert Göstl und Florian Benfer zu einem Spitzenchor für den chorsängerischen Nachwuchs etablierte. Als Ensemble des Deutschen Chorverbands schien der Deutsche Jugendkammerchor allerdings weder das gesamte Chorleben mit seinen vielen Chorverbänden noch das Land mit seinen relevanten Institutionen wirklich abzubilden. Es ging also darum, ein Gesangsensemble zu etablieren, das auf der gleichen strukturellen und repräsentativen Ebene agiert wie das bereits bestehende Bundesjugendorchester und das Bundesjazzorchester, die beide ein herausragendes Renommee genießen.
Träger des neuen Bundesjugendchores ist, wie bei den zwei anderen Ensembles, der Deutsche Musikrat. Zudem garantiert die Ansiedlung des Bundesjugendchores an das Familienministerium eine kontinuierliche finanzielle Absicherung. Ein mehr oder weniger zähes Ringen ging dem allerdings voraus. So mussten die verschiedenen Chorverbände zusammengebracht werden, es galt Streitereien zu schlichten und einen gemeinsamen Konsens zu finden. Ein eigens eingerichteter Beirat unter dem Vorsitz von Jürgen Budday, der auch 18 Jahre lang den Vorsitz im Beirat des Deutschen Chorwettbewerbs innehatte, erwies sich dabei als zielführend. Budday gelang es mit diplomatischem Geschick auf alle Seiten harmonisierend einzuwirken, denn es ist wichtig, so Budday, „dass alle Kräfte in der Chormusik dieses Projekt unterstützen und aktiv mitgestalten“. Zur Konsensfindung gehörte übrigens auch, dass Sängerinnen und Sänger des Deutschen Jugendkammerchors die Möglichkeit bekamen, in den neuen Bundesjugendchor zu wechseln, sie können nun ihre musikalischen Erfahrungen hier miteinbringen.
Auch beim Bundesjugendchor verhinderte die Coronapandemie ursprüngliche Pläne, denn bereits vor gut einem Jahr sollte das Premierenkonzert stattfinden. Natürlich waren die Proben von strengen Auflagen begleitet. So fand endlich im März die erste gemeinsame Probe statt, mit jeweils zwei Metern Abstand voneinander. „Es war ein Gefühl wie in einer Bahnhofshalle, Sopran und Bass standen gefühlt 40 Meter auseinander, so war es schwer eine Art homogenen Klang zu formen“, erinnert sich Anne Kohler. Doch es gelang! In nur drei, aber dafür sehr intensiven Probenphasen wuchs der neue Chor musikalisch und menschlich zusammen.
Arbeiten am Klangideal
„Von Minute eins hat Anne ganz intensiv an ihrem Klangideal gearbeitet und dies mit jedem Ton eingefordert. Sie weiß sehr genau was sie will und wie sie sich das holt“, verrät Raphael aus dem Chor und ergänzt: „Ihre unglaublich ruhige und freundliche Art hat wahnsinnig dazu beigetragen, aus dem Chor eine Gemeinschaft zu formen. Sie hat dafür gesorgt, dass wir alle das Gleiche wollen, dass wir uns gut verstehen und an einem Strang ziehen.“ Und auch andere Sängerinnen und Sänger bestätigen das freundschaftliche und respektvolle Miteinander während und nach den Proben; sie fühlen sich nach eigenem Bekunden als junge Künstlerinnen und Künstler ernst genommen und sehen die Möglichkeit sich musikalisch voll einzubringen. Hinzu kommt, dass die Nachwuchssänger*innen des Bundesjugendchors mit Stimmbildnern zusammenarbeiten. All dies unterstützt das Ziel eines homogenen Chorklangs, bei dem sich die Stimmen in denselben Vokalfarben und Resonanzen optimal mischen. „Wenn es anfängt zu schwingen und zu glitzern, bin ich immer froh“, erzählt Anne Kohler.
Das Gründungskonzert
Tatsächlich hatte man schon beim Premierenkonzert in der Berliner Philharmonie das Gefühl, dass sehr viel davon bereits eingelöst ist. Dabei war das etwa 75-minütige Programm ausgesprochen anspruchsvoll und stilistisch vielfältig, wie eben schon der Programmtitel „Alpha & Omega“ verrät. So wurde Musik aus der Renaissance, Romantik und Moderne nebeneinandergestellt und kontrastiert. Man vernahm Schumanns „Vier doppelchörige Gesänge“ klangschön mit feinen Abstufungen und wunderbar ausgesungenen Melodiebögen. Hinzu kamen präzise Akzentsetzungen, wobei jeder Klang gestaltet und ausgekostet wurde. Bei den nachfolgenden „Fest- und Gedenksprüchen“ von Johannes Brahms hatte man durch den wunderbaren Gesamtklang das Gefühl, ein musikalisch schon längst eingeschworenes Ensemble zu hören.
Von hier aus dann ein sehr viel schlankeres Renaissanceklangbild zu erzeugen wie bei Orlando di Lassos „Timor et tremor“ war schon ein großes Kunststück. Anmutig, mit Leichtigkeit und Präzision sowie dynamischer Flexibilität gestaltete der Chor unter Kohlers präzisem Dirigat Lassos polyphonen Gesang.
Schwebende Klänge entstanden bei seinem „In religione homo vivit“ und fast schon modern, mit ganz leicht genommenen Verzierungen gelang das „In hora ultima“.Dazwischen hörte man die „Plainsongs for Peace and Light“ des 2012 verstorbenen britischen Komponisten Jonathan Harvey. Sogleich entfaltete sich bei diesem eklektizistischen Werk eine fast magische Kirchenraumatmosphäre, in der in scheinbar klösterlicher Gesangshaltung gregorianische Phrasen erklangen. Kontraste setzten in diesem Werk harmonisch moderne Abschnitte, in denen betörende Chorklänge zu vernehmen waren, die zu zerfließen schienen, wie die Uhren und Figuren auf Salvador Dalís Bildern. Weitere zeitgenössische Stücke wurden präsentiert. Das als reines Klangstück konzipierte Werk „Mit geschlossenem Mund“ von Wolfgang Rihm und die Uraufführung „Innen“ von Kathrin A. Denner. Denner arbeitet – wie Rihm – mit einer Vielfalt von vokalen Ausdrucksformen. An- und abschwellende Klänge, die sich zugleich flirrend und irisierend im Raum ausbreiten, mit der Hand vor dem Mund manipulierte Töne, Glissandi oder Vokalsounds in extremen Lagen, die eine beklemmende Wirkung erzeugten. Schließlich gab es noch das großartige Stück „Alpha and Omega“ des schottischen Komponisten James MacMillan. In feinsten Nuancierungen sang das Jugendensemble MacMillans wunderbar aparte Harmonien zur Vision eines neuen Himmels aus der biblischen Offenbarung.
Auch dafür steht das Eröffnungskonzert des Bundesjugendchors: Chorgesang etabliert sich mehr und mehr als eigenständiges Genre mit zunehmender Anerkennung. Einige Sängerinnen und Sänger studieren Gesang oder sie wollen es noch studieren. Doch ist es bei ihnen nicht mehr die klassische Solokarriere, die sie anstreben. Aussagen wie „Ich finde Chor viel schöner als Sologesang“ oder „Ich habe vor, in einem professionellen Berufschor zu singen“ hört man da häufiger. „Wir wollen junge Leute im chorischen Singen auf ein hohes Niveau bringen“, ergänzt Jürgen Budday „zum Beispiel im Hinblick auf die Rundfunkchöre, die ja Nachwuchs brauchen.“ Schließlich will der Bundesjugendchor Deutschland als bedeutendes Chorland auch international repräsentieren. Das für kommenden Sommer geplante Begegnungsprojekt mit dem polnischen Jugendchor, das zudem der Stärkung Europas dient, ist dafür ein schönes Zeichen.