Befremdlich scheint der Titel. In dieser szenischen, musikalisch aus Kompositionen von Johann Sebastian Bach, Knut Nystedt, William Carlos Williams und Steve Reich kompilierten Uraufführung tanzt Martin Luther keineswegs, und schon gar nicht mit den Göttern. Aber Robert Wilsons präzise Regiearbeit, vor mehr als 40 Jahren für Berlin an der Schaubühne begonnen, fasziniert. Sie ist, wie stets, extrem auszirkuliert.
Spiel-Zirkel in der ersten szenischen Produktion im Pierre-Boulez-Saal ist die Ellipse der Grundfläche des Raums, vom Regisseur – gemeinsam mit Annick Lavallée-Benny (Co-Bühne) – mit allerlei Lichttechnik und Gasleitung ausgestattet und als Spielpodest hochgehievt. Zugleich ist die Arenabühne für das rundum angeordnete Publikum als eine Tafel mit aufleuchtenden Linien und Kreisen lesbar. Der Rundfunkchor Berlin, durch diverse szenische Produktionen aus eigenem Antrieb theatererfahren, realisiert in schwarzen, stilistisch an Yamamoto gemahnenden Kostümen (Heiner Müllers Inszenierung von „Tristan und Isolde“), auf der ersten Empore des Saals gegenläufige Kreisbewegungen in möglichst exakten Abständen zum/r jeweiligen Vordermann/-frau. Andere Chor-Mitglieder erhalten größere, choreographisch schwierigere Aufgaben, dazu sechs Tänzer, die sich mit schwarzer Farbe beschmieren (ein Bezug zu Luthers Tintenfass?).
Als Luther selbst ist der greise Kämpe des Berliner Ensembles Jürgen Holtz zu erleben: ein knatternd Aufbegehrender gegen die lateinisch vorgebrachte Anklage der katholischen Kirche. Diese lässt Lydia Koniordou als eine Art von Sprechgesang erschallen. Die prominente griechische Schauspielerin und seit 2016 Kultusministerin Griechenlands ist als griechische Tragödin prädestiniert. Optisch schlägt Wilson den Bogen zu den Anfängen des europäischen Theaters, deutet die zentrale Ellipse als Orchästra und spannt den Bogen zur Genesis und zu Texten aus der Apostelgeschichte sowie den Römer-Briefen, die Koniordou im ursprünglich griechischen Wortlaut deklamiert: altgriechisch, aber in neugriechischer Aussprache.
Dass Wilson auch die drei Ur-Plagen Sorge, Not und Zwang als drei Frauen ins Spiel bringt, dürfte insbesondere den im Publikum anwesenden Staatsopernintendanten erfreut haben, zumal Jürgen Flimm diese soeben in Schumanns „Faust-Szenen“ selbst als Dramatis Personae szenisch realisiert hat. Hier werden sie von den vier Evangelisten, deren Namen auf den von diesen erhobenen, schwarzen Felsblöcken zu lesen sind, kurzerhand besiegt. Gegenüber archaischen Allegorien und assoziativen Bildern wirken Martin Luther und seine mit den stereotypen Bewegungen einer mittelalterlichen Hausfrau domestizierte Gattin einspurig; als Witwe fegt Katharina von Bora (Kirsten Burger) den Boden mit einer Bibel am Stiel. Das bewusst Simple wird artifiziell überboten durch ein rothaariges Kind (gemäß dem Jesus-Wort „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder!“): Serafin Mishievs Vortrag des Rätsels aus Luthers Tischreden bildet den Bogen des pausenlosen, dreieinviertelstündigen Abends. Koboldartig ziseliert der junge Darsteller seine Texte, gemischt mit hündischem Bellen und hexischem Zischen. Anfangs lässt er eine kleine Leiter schweben, die sich dann in ein Mobile von Leitern einfügt, die sich aus dem Schnürboden des Saals herabsenken. Er spielt auch den von Kostümbildnerin Julia von Leliwa dreidimensional umgesetzten Vogel aus Hieronymus Boschs Höllenvision. Ein weiteres Inferno-Zitat der Inszenierung lässt den Teufel in einer Schubkarre kreisen.
So manches Rätsel wird dem Betrachter aufgegeben; entschlüsselbar sind große Rotbarsche auf den Rücken einiger Herren (aufgrund der identischen Anfangsbuchstaben des ICHTUS [Fisch] mit den Initialen von J[esus] CH[ristus] als Geheimzeichen des frühen, von den Römern noch verbotenen Urchristentums). Schwieriger deutbar sind blutige Schürzen und schwarze Äpfel, welche den Ton der Sängerinnen ersticken lassen oder ein kopfloser Kadaver mit weißen Rippen, welche aus dem verkohlten Corpus ragen. Nicht visualisiert wird der in Bachs Motette erwähnte „alte Drache“, aber mit ins Spiel kommt eine veritable Schlange. Wenn Luther, der aus der geheimen Offenbarung wirkungsvoll deklamiert hatte, sich zum Sterben begibt, ertönt die Stimme des Schauspielers nur noch aus dem Off – mit seinen Gedanken über die Unmittelbarkeit der Kinder in Wahrnehmung und Glauben. Doch dazu erhebt das noch unschuldige Kind sein Schwert gegen die Mutter und tötet sie. Bewährter Broadway-Tradition folgend, waren der Premiere vier Previews vorausgegangen. Offenbar wurden im Zuge dieser Voraufführungen tatsächlich Änderungen vorgenommen, abzulesen etwa an der Umstellung von Steve Reichs doppelchöriger „Clapping Music“, die im Programmheft noch das Ende der Szenenfolge definiert, am Premierenabend aber vorgezogen wurde.
Neben der Instrumentengruppe aus Violoncello, Kontrabass und Orgel als Continuo positioniert, leitet Gijs Lenaars deutlich akzentuierend den quasi frei schwebend intonierenden Rundfunkchor. Lenaars gegenüber, auf dem Hauptgang der ersten Empore, dirigiert sein perfekt synchroner Assistent Benjamin Goodson. Die brillante Akustik dieses noch brandneuen, überaus ungewöhnlichen Konzertsaals ermöglicht es, dass alle Singenden einander optimal hören können; aber auch dem Zuhörer kommen leichteste rhythmische Verschiebungen unmittelbar unverfälscht zu Ohren.
Das nicht bis auf den letzten Platz ausverkaufte Auditorium im Pierre-Boulez-Saal brachte allen Beteiligten und dem Regieteam ungeteilte Begeisterung entgegen. In der Tat ist Wilson eine Produktion gelungen, die Luther aufgrund des Gedenkjahres zum äußeren Anlass nimmt, Gedanken tanzen zu lassen: jenseits katholischer und protestantischer Doktrin sind Gedanken frei, und, wie es in Mozarts „Zauberflöte“ heißt, „Sterbliche den Göttern gleich“.