Mit unterschiedlichen regionalen Erscheinungsterminen ist seit Advent 2013 die neue Ausgabe des katholischen Gebet- und Gesangbuchs „Gotteslob“ in den Gemeinden eingeführt worden. Für die nmz befragte Robert Göstl den Vizepräsidenten des Allgemeinen Cäcilien-Verbandes für Deutschland (ACV), Reiner Schuhenn, zur Bedeutung dieser Neuerscheinung für die Kirchenmusik- und Chorszene.
neue musikzeitung: Der ACV ist der Dachverband für die katholische Kirchenmusik und die Kirchenchöre in Deutschland. Sie, Herr Schuhenn, sind einer seiner Vizepräsidenten. Welche Bedeutung misst der ACV der Einführung des neuen Gebet- und Gesangbuches „Gotteslob“ bei?
Reiner Schuhenn: Es handelt sich hierbei wirklich um ein epochales Werk, das gar nicht hoch genug wertgeschätzt werden kann. Das Buch leistet – unabhängig von diskutierbaren Details – etwas absolut Wichtiges und Unverzichtbares: Es stiftet Einheit. Schon das alte Gotteslob (GL) setzte hier Maßstäbe, die – und das ist im Zeitalter eines zunehmend Individualismus nicht selbstverständlich – auch mit dem neuen Buch beibehalten werden konnten und einen immensen Wert an sich darstellen: Egal, ob man in Bozen, Wien oder Hamburg in einen katholischen Gottesdienst geht, es wird zu einem großen Teil dasselbe Repertoire gesungen (Stammteil des GL), was dazu beiträgt, dass man sich liturgisch sofort zuhause und damit in die Feier integriert fühlt.
Der ACV hat diesen unschätzbaren Wert erkannt und aus diesem Grunde dem neuen GL viel Raum zur Präsentation gegeben, in dem er die vergangene Mitgliederversammlung im November 2013, also die Versammlung aller diözesanen Kirchenmusikrepräsentanten und -multiplikatoren, komplett dem neuen GL gewidmet hat. Diese Tagung war sehr umfassend, es wurden die pastoralen und liturgischen Aspekte des neuen Textteiles sowie die musikalischen Neuerungen vorgestellt, ebenso wurden die Begleitpublikationen präsentiert (Kantorenbuch, Chorbücher etc.).
nmz: In der öffentlichen Wahrnehmung scheint dieses Ereignis, das innerkirchlich als epochales Ereignis gewertet wird, keine sonderlich große Aufmerksamkeit zu erfahren. Woher kommt das?
Schuhenn: Ich glaube, man kann nicht sagen, dass das Buch grundsätzlich nicht als epochales Ereignis gewertet wird. Vielmehr ist es leider so, dass das neue Gotteslob regional aufgrund „besonderer Bedingungen“ noch gar keine Chance hatte, umfassend geschätzt zu werden, weil es leider immer noch nicht komplett, also in der notwendigen Fülle seiner Begleitpublikationen, vorliegt. Das Buch muss singend und betend erfahren werden, um es in seiner Besonderheit wertschätzen zu können. In einigen Diözesen konnte das Buch aber aufgrund von drucktechnischen Problemen erst mit mehreren Monaten Verzögerung ausgeliefert werde. Es gab also keinen „gemeinsamen Start“, er war vielmehr terminlich regional unterschiedlich. Das hat der „Wucht des Neuen“ leider in erheblichem Maße die Kraft der Aufmerksamkeit genommen.
Und zweitens: In vielen Gemeinden sind die Organisten, zumal die vielen nebenamtlichen, die das Buch vorstellen und in der Liturgie anwenden sollen, dringend auf das sogenannte „Orgelbuch zum Gotteslob“ angewiesen. Leider ist das Buch immer noch nicht fertig, was bedeutet, dass viele Gemeinden trotz inzwischen vorliegendem neuem Gesangbuch die wertvollen Neuerungen gar nicht erfahren können, da der Organist immer noch aus dem alten Orgelbuch spielen muss. Somit können in Liedern, die übernommen wurden, melodische oder rhythmische Verbesserungen nicht umgesetzt werden; und neue Lieder, die unter anderem den Reichtum des Buches ausmachen, bleiben von Anfang an „unentdeckt“. Die Gefahr, dass diese neuen Lieder infolgedessen zeitlebens in der „Raritätenecke“ bleiben und somit nicht praktizierte Wirklichkeit werden, ist nicht zu unterschätzen …
nmz: Welche Entwicklung kann man beim Gemeindegesang in den letzten Jahren beobachten?
Schuhenn: Allgemein ist die Tendenz festzustellen, dass die Gottesdienstbesucher lieber zuhören und „konsumieren“, als sich selbst singend einzubringen. Diese fehlende Singfreudigkeit wirkt sich im Repertoire aus: Es gibt Lieder und Gesänge (z.B. das „Ecce lignum“ oder das große Osterhalleluja), die in manchen Gemeinden völlig verloren gegangen sind. Das liegt auch daran, dass die Priester und Kantoren diese Gesänge mitunter selbst nicht kennen. Das „weniger Singen“ bedeutet auch das Aus für viele Chöre, weil die Singfähigkeit fehlt. Andererseits kann man aber feststellen, dass sich das Singen in viele Facetten ausdifferenziert hat: Dort wo man sich in bestimmten Gottesdienstformen auf eine Klientel mit speziellen Interessen einstellt, wird wieder verstärkt gesungen. Auch die steigende Zahl ausgezeichneter Projektchöre ist ein Zeichen dieser Entwicklung hin zu einem individualisierten Singen.
nmz: Wagen Sie eine Prognose für die Zukunft?
Schuhenn: Klar ist, dass die Zeiten des großen „Volksgesanges“ vorbei sind. Sollte sich der Rückgang der musikalischen Bildung und damit auch des Singens im Allgemeinen fortsetzen, wird der Gemeindegesang weiter nachlassen. An anderen Stellen, in individualisierter Form, wird aber hoffentlich kreativer und besser gesungen werden.
nmz: An der Zusammenstellung des neuen Gotteslobes gibt es Kritik vor allem an den so genannten „Neuen Geistlichen Liedern“ (NGL) und an den Psalmen. Teilen Sie diese?
Schuhenn: Das Buch hat den Anspruch, wirklich die gesamte Gemeinde in den Blick zu nehmen, Kinder und Jugendliche ebenso wie Senioren, Konservative ebenso wie Neuerer. Dass dies nur mit einem starken Willen zur Kompromissfähigkeit möglich sein kann, versteht sich von selbst. Jede Generation und jede liturgische Klientel wird also Gesänge benennen können, die sie gerne noch im Buch vertreten gesehen hätte. Auch das ist nicht wirklich verwunderlich und liegt in der Natur eines solchen umfassenden Gebets- und Liedkompendiums. Insofern gilt es, die Kritik an der Auswahl mancher Gesänge zu relativieren. Bei den Psalmen, und das empfinde ich als wirklich ärgerlich, ist eine große Chance vertan worden. Die völlig neue, von einer Arbeitsgruppe in jahrelanger, akribischer Arbeit angefertigte Psalmenübertragung, die eine deutlich verbesserte Singweise (à la Münsterschwarzach) bedeutet hätte, wurde nicht umgesetzt. Nun halten wir wieder die alten GL-Psalmübertragungen in Händen, mit ihren holprigen Versen und teilweise falschen Übertragungen.
Außerdem ist der Bereich, in dem Kinder- und Jugendliche, also die Generation von morgen, ihrem Glauben Ton geben können, zu gering ausgefallen. Die junge Generation findet meines Erachtens nicht genügend Texte und Lieder, die aus ihrer Sprache und Ästhetik stammen.
nmz: Ein neues Gesangbuch hat sicher auch Auswirkungen auf die Kirchenchöre. Wird hier vom ACV eher eine Aufbruchstimmung oder Skepsis wahrgenommen und wie beurteilen Sie Begleitmaterialien für Chöre?
Schuhenn: Die neuen chorischen Begleitbücher basieren auf einer fantastischen Idee, nämlich der der „Modulsätze“: Es gibt zu einer großen Anzahl ausgewählter Lieder zwei-, drei- und vierstimmige Sätze (für ein- bis zweistimmigen Kinder- und Jugendchor, für einen dreistimmigen (SAM) und den klassischen vierstimmigen Chor (SATB)) – und alle Sätze passen zusammen und können gleichzeitig gesungen werden. Das bedeutet, dass man in einen Gottesdienst alle Ensembles einer Gemeinde gleichzeitig singend integrieren kann. Das ist nicht nur eine musikalische Leistung, sondern vor allem eine liturgisch-pastorale Besonderheit, denn damit kann man sich zunehmend von der „Individualmesse“ verabschieden und so die zusammenführende Kraft einer Altargemeinde stärken. Auch wenn man über die Qualität mancher Sätze zu Recht streiten kann: Mit Hilfe der neuen Chorpublikationen zum GL ergeben sich völlig neue liturgische Gestaltungsmöglichkeiten. Eine Bereicherung stellt desweiteren der über die Modulsätze hinausführende Motetten-Band zum GL dar, der zur filigranen Feierlichkeit der Liturgie beiträgt.
Abschließend aber bleibt festzuhalten, dass das GL die katholische Kirche in den deutschsprachigen Ländern und Regionen prägen wird wie kaum eine andere Publikation. Aufgabe der Ausbildungsinstitute und Hochschulen wird es sein, das GL als Chance zu nutzen, um den angehenden Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusikern nochmals zu verdeutlichen, dass die singende Gemeinde auch ein Ensemble ist, das ihrer Sorgfalt obliegen muss (Deutscher Liturgiegesang), und dass sich aus einer singenden Gemeinde heraus chorische Vielfalt und Qualität entwickeln kann (Chorleitung).