Dortmund war vier Tage lang das Mekka des Chorwesens. Ins dortige Kongresszentrum pilgerten etwa 1.000 Chorleiter, 50 Aussteller und weitere Angehörige der Chorszene, um sich in über 120 angebotenen Workshops, mehr als 50 Konzerten und in den Verlags- und Firmenausstellungen Impulse für ihre Tätigkeit in den unterschiedlichsten Chorbereichen zu holen.
„Visions“, so lautete das Thema des Jazz/Rock/Pop-Kompositionswettbewerbs, welcher im Vorfeld von der UdK Berlin, dem Helbling Verlag und dem Deutschen Chorverband ausgeschrieben wurde. Ein passenderes Motto hätte für die chor.com nicht gefunden werden können, war sie doch eine in die Tat umgesetzte Vision des Deutschen Chorverbands: Messe, Chorfest, Wettbewerb und Fortbildung in einem. In einem Interview mit dem WDR äußerte Simon Halsey, Artist in Residence, sehr treffend: „Hier ist die große Chorfamilie zusammengekommen. Es ist wie ein Fest.“ Und das Besondere aus chorpädagogischer Sicht war dabei, dass es dem Chorverband mit diesem „Fest“ gelang, Grenzen innerhalb der Chorszene aufzuweichen. Auf die Workshops bezogen bedeutete dies, dass viele Veranstaltungen angeboten wurden, die sich mit neueren Vermittlungsmethoden und zeitgemäßen Konzepten auseinandersetzen.
In „Chor erleben – Jazz und Pop in moderner Chorarbeit“ luden die Referenten Stephan Süß und Maren Böll zu einer Betrachtungsweise ein, die die herkömmliche Rolle des Chorleiters hinterfragt. Sie stellten eine Chorarbeit vor, die wenig hierarchisch strukturiert ist und auf chorleiterisches, autoritäres Handeln verzichtet. Hier ist Musik „nur“ das Medium. Im Zentrum steht der musizierende Mensch, für den ein angstfreier Raum zu schaffen ist, in dem sich sein individuelles Potenzial frei zu Höchstleistung entfalten kann. Martina Freytag setzte in ihrem Workshop „Chorleitung – effizient und lebensnah“ auf die Kommunikation zwischen Sängern und Chorleiter und empfiehlt zur Klangsteigerung in ihrem gleichnamigen, neu erschienenen Buch den Einsatz des Flirt- und Erotikfaktors zwischen und zu den Sängern (Rezension in der nmz folgt).
„JEKISS – Jedem Kind seine Stimme“ aus Münster ist eine der zahlreichen Initiativen zur Förderung des Singens in Kindergarten und Grundschule. Inga Mareile Reuther gab in ihrem Workshop Einblicke in die für JEKISS typischen methodisch-didaktischen Einstudierungstechniken. Wie man Kinderchöre leitet, in denen jeder mitsingen darf, zeigte Robert Göstl anschaulich in seinem Workshop „Kinderchorleitung“, des Weiteren gab es Angebote zum Singen mit Kindern aus den unterschiedlichsten Bereichen: Musicals (Barbara Schatz und Andreas Mücksch), Stimmbildung (Friedhilde Trüün) sowie unterschiedliche Literatur für Kinderchöre (Peter Schindler, Lorenz Maierhöfer u.a.).
Innerhalb der chor.com fand auch das dritte Internationale Symposium zur Chorforschung statt: „Masse oder Gemeinschaft? Chorgesang in der modernen Gesellschaft“ lautete der Themenschwerpunkt. Welchen Beitrag leis-
tet die Wissenschaft inmitten pluralistischer Chorpraxis? Auf die Fragen „was hat uns die Geschichte in Bezug auf Chor gelehrt“, „wie veränderte sich das Ideal eines Chorleiters im Laufe der Geschichte“ oder „welche Methoden, Ziele und Handlungsweisen innerhalb der chorpädagogischen Entwicklungen sind gut und ertragreich“ möchte die Wissenschaft möglichst objektiv-neutrale Antworten finden. In diesen und weiteren Themen forscht sie nah am Zahn der Zeit. „Wissenschaft darf nicht schlafen. Sie hat die Aufgabe scheinbar Bekanntes und scheinbar Geklärtes neu zu hinterfragen. Sie möchte positiv stören und wachrütteln“, so Friedhelm Brusniak, Leiter des Forschungsprojektes Deutsches Chorwesen (siehe auch Seite 8).
Dass die Erfahrungswerte der Praktiker nicht immer stimmen, konnte Andreas C. Lehmann in seiner empirischen Studie über die gestische Kommunikation des Chorleiters nachweisen. Fragt man Sänger, auf welche Art von Instruktion des Chorleiters sie am klarsten und deutlichsten reagieren, so nennen sie zunächst das Dirigat, dann die verbalen Hinweise, dann die Eintragungen in der Partitur und zuletzt die Reaktion auf das Gehörte der benachbarten Sänger. Der wissenschaftliche Versuch zeigte jedoch eine andere Gewichtung: Am besten umgesetzt wurden die verbalen Hinweise, an zweiter Stelle stand die Reaktionen auf die Umgebung, dann das Dirigat und zuletzt die Eintragungen in der Partitur. „Aus dieser Studie kann man wertvolle Rückschlüsse für die Ausbildung von Chorleitern schließen“, so Lehmann.
Über die soziodemographischen, sozialen und musikalischen Hintergründe des Chorsingens in Deutschland informierte Peter Brünger, der Teilergebnisse eines empirischen Forschungsprojektes präsentierte. In einer Studie, in der 3.000 Chorsänger befragt wurden, konnte Brünger belegen, dass ein früher Einstieg die beste Voraussetzung dafür ist, lange dabei zu bleiben. „Ich kann gar nicht genug betonen, wie wichtig das Singen in den Grundschulen ist“, so Brünger. „Jede Grundschule braucht ihren Schulchor, weil dies der Chor ist, in dem die meisten Sängerbiographien beginnen.“
Viele weitere Facetten, die in diesem großen Panoptikum der Chorszene beleuchtet und bearbeitet wurden, verdienten eine jeweils eigene Würdigung. Durch die Einbeziehung anderer Verbände fand geistliche Chormusik von der Gregorianik bis in die Neuzeit statt, es gab auch im weltlichen Bereich einen erfreulichen Schwerpunkt auf populärer und weniger populärer neuer Musik, und vor Jahren noch undenkbare Chorformen beispielsweise für rockende Senioren zeigten auf, wohin die Reise geht: in eine bunte, heterogene und ideenreiche Zukunft.