So steckt zum Beispiel im Akt des Wassertrinkens jede Menge Klangpoesie. Im Fall der „Drinking and Hooting Machine“ (Trink- und Pfeifmaschine,1968) des englischen Experimentalmusikers und Komponisten John White bildet ein allmählich absinkender Mehrklang das verbindende Element, das ein meditatives Klangbild erzeugt. White, enger Verbündeter Cornelius Cardews und Mitglied seines im Jahr 1969 in London gegründeten Ensembles Scratch Orchestra, baut mit musikalischen Alltagsmaterialien (sog. Maschinen) auf den Prinzipien des anti-elitären Offen-für-alle-Musizierens auf. Bei einer Aufführung von „Drinking and Hooting Machine“ kann – unter hilfreichen akustischen und räumlichen Bedingungen (z. B. gute Resonanz) – eine Gruppe sensibler Mitwirkender einen fokussierten Flow-State erfahren.
Ablauf
Eine freie Anzahl von Teilnehmer*innen (5 bis ca. 100) wird in vier verschiedene Hauptgruppen (sowie ggf. weitere Subgruppen) aufgeteilt, die sich frei im Raum platzieren. Alle Teilnehmenden erhalten eine mit Wasser gefüllte Glasflasche sowie Partitur-Kärtchen. Die Umsetzung des Konzepts geschieht durch a) das Lesen einer einfachen Ablauftabelle, b) das Trinken von Wasser aus der Flasche in drei verschiedenen Mengen, das heißt in kleinen, mittleren und großen Schlucken, und c) Erzeugen eines quer über die Flaschenöffnung geblasenen, flötenartigen Klanges (das englische „Hoot“ bezeichnet den Schrei einer Eule). Entsprechend der im voraus ausgehandelten Stimmenverteilung hangeln sich alle im eigenen, ganz ungezwungenen Zeitverfahren an der Ablauftabelle entlang, um den abgebildeten Aktionszyklus umsetzen zu können: gegebenenfalls einen Schluck Wasser trinken – eine vorgegebene Anzahl an geblasenen Tönen erzeugen – wiederholen. Durch die unterschiedlichen, keineswegs koordinierten Trinkaktionen werden die Tonhöhen der „Hoots“ tiefer, und die orgelartige Flötentonkonstellation bewegt sich allmählich nach unten. Die letzte Aktion, ein nach dem Austrinken des Wassers von allen geformter Tutti-Klang, bringt die Teilnehmer*innen zum Schluss im Geiste einer gemeinsamen Klanggeste wieder zusammen – ein musikalisches Zueinanderfinden nach einer rhythmisch individuell gestalteten Reise.
Der verbindende Atem
Die Besonderheit des Konzepts liegt nicht nur in dem außergewöhnlichen, poetisch-klanglichen Gebrauch eines einfachen Alltagsgegenstandes, sondern darüber hinaus in der meditativen, tief mit dem Atem verbundenen Klangproduktion. Hier liegt ein wahrer Schatz an klanglich-körperlichen Erfahrungen, durch welche Menschen sich zueinander hingezogen fühlen können. Die existenzielle Frage „Was bedeutet es, im Augenblick gemeinsamen Gestaltens ein atmender Mensch unter atmenden Menschen zu sein?“ bekommt hier eine musikalische Antwort: In „Drinking and Hooting Machine“ rückt der wesentlichste physiologische Aspekt unseres Daseins in den Vordergrund, welcher die akustisch-strukturellen Züge der Performance vom allerersten Anfang bis zum letzten, abschließenden Ton bestimmt. Ein Leben im musikalischen Mikrokosmos: Atem als klangsinnliches Alpha und Omega?
Vor der Beschäftigung mit dem eigentlichen Konzept kann gemeinsam ein erhöhtes Bewusstsein für die essenzielle Rolle des Atems erweckt werden. Zu diesem Zweck steht jeder anleitenden Person ein vielfältiges Sammelsurium an Warm-Ups und Vorbereitungskonzepten zur Verfügung. In dem „atemgedicht“ (1954) des Wiener Dichter-Komponisten Gerhard Rühm (*1930) werden die kadenzartigen Qualitäten des Atems entdeckt und zu einem spannenden dramaturgischen Bogen gespannt, woraus eine emotionale Theater-Miniatur entsteht. Vier lediglich aus Ein- und Ausatemzügen bestehende Akte oder Strophen finden ihren Höhepunkt im verlängerten Atemanhalten, welches sich in ein erleichterndes Ausatmen auflöst und die Atmenden gleichsam „erlöst“: Dominante-Tonika in herrlich poetischer Form.
Weiterhin lädt Dieter Schnebel mit seiner (graphischen) Partiturensammlung „MO-NO. Music to Read“ zum Lauschen ein. Eine Art Musik zum stillen Lesen. Das Buch enthält Texte und Graphiken, die „zum Hören und Verknüpfen gerade passierender Klänge verleiten wollen“ (Klappentext). Die Erfahrung, dass diese Hörreise im Inneren des Menschen ihren Ausgang nimmt, vermittelt bereits die erste Übung, deren Text, seinem Inhalt entsprechend, auf mehrere Blätter und Zeilen verteilt ist und eine entsprechende Ruhe ausstrahlt: „Bitte seien Sie nun ruhig! // ganz ruhig. // regungslos / den Atem anhaltend / konzentriert / und // | // lauschen Sie!“ (ebd.). Ein bewusster Umgang mit dem Atem als selbstverständlicher Teil des konzentrierten Hörens.
Eine intensive Auseinandersetzung mit dem Atem ist auch in den angeleiteten Gruppenmeditationen der amerikanischen Komponistin und Begründerin der Deep Listening-Hörschule Pauline Oliveros erforderlich. „Environmental Dialogue“ (1997, rev. 2008) beginnt ebenso mit der Wahrnehmung des Atems („the meditation begins by each person observing his or her breathing“), während sich in „Breathe In/Breathe Out“ (1982) die von den Teilnehmenden erzeugten Atemzüge allmählich in Klänge der Natur wandeln („listen, as the sound of your breath turns into the sound of the wind“).
Trotz ihrer unterschiedlichen inhaltlichen Ausrichtungen und Aufführungsprinzipien weisen die beschriebenen Konzepte zusammen mit „Drinking and Hooting Machine“ auf eine grundlegende Haltung hin: die Achtsamkeit auf den Atem als strukturgebendes, klanglich variables und verbindendes Grundelement eines erfüllten Miteinanders.
Handlungsprinzipien der Community Music
Kann „Drinking and Hooting Machine“ trotz seiner Vorgaben in den Handlungsprinzipien der Community Music verortet werden? Zunächst fordert der von White konzipierte, auf Papier festgelegte Ablauf einen klaren Prozess des Anleitens und Probens. Die Vorstellung eines bestimmten Resultats, egal wie unterschiedlich im Augenblick der Aufführung, existiert bereits. Die Tatsache, dass jene Performance von den bereits vorbestimmten Elementen der Tabellenpartitur abhängt, benötigt eine top-down anleitungsorientierte Herangehensweise, Anleitung jedoch verstanden im Sinne von facilitation. Diese schränkt dabei sowohl die Freiheiten der Teilnehmer*innen als auch die Überraschungsmomente der eigenen Kreativität ein, die ein so wesentlicher Bestandteil der in der CM verankerten, offenen Musizierprozesse sind. Anders ausgedrückt ist eine gewisse Erwartungshaltung einem bestehenden Produkt gegenüber gegeben, wobei sich wiederum ganz neue Erfahrungsräume eröffnen. Im Sinne des musikpädagogischen Gedankens, ein Werk als Spielraum zu betrachten (Peter Röbke), lässt sich das Konzept als Sprungbrett für Gruppenmusizierprozesse einsetzen, wobei die Bausteine (Atmung, Flaschenflöten, Wasserklänge) zur Grundlage einer freien Gruppenimprovisation werden können, bei der dann die Möglichkeiten so vielfältig sind wie die Menschen, die daran teilnehmen.