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Die emotionale Seite des Lernens

Untertitel
Ein Leserbrief, ein Sommerkurs und eine provozierende Einordung pädagogischen Handelns
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Es gibt keine Zufälle. Bereits im vergangenen Jahr hat der pensionierte Lehrer Günther Hartenstein der nmz dankenswerterweise einen sehr ausführlichen Leserbrief zur damals noch recht neuen Chorszene-Seite geschickt, in dem er (sehr knapp zusammengefasst) kritisch anmerkt, dass in der Vermittlung des Singens an Kinder seiner Meinung nach viele neue Wege und große Teile heute gesungener Literatur Kinder im Vor- und Grundschulalter schlichtweg überfordern und dass bewährte Methoden wie die Orientierung an der Pentatonik, vor allem aber die Freude an der kleinen, einfachen Form und Melodie verschwinden. Dieser erste Leserbrief ist durch postalische Irrwege erst Monate später bei mir angekommen und nun, weitere Monate später, hat mir Herr Hartenstein auf meine entschuldigende Nachfrage ein weiteres Mal ausführlich geantwortet und seine Überlegungen konkretisiert. Da ist viel Wahres dran, das solltest Du aufgreifen – das war der erste Impuls beim Lesen.

Bei der Überlegung aber, wie dies zu geschehen habe, stellten sich Schwierigkeiten ein. Die sehr präzisen Vorstellungen, teils aber auch Anwürfe hätten in einer einigermaßen angemessenen Darstellung den Rahmen einer Zeitung bei weitem gesprengt und sie hätten – dies merkt der Fachmann an – bei aller Zustimmung zumindest in Teilen nicht unwidersprochen bleiben dürfen. Das größte Unwohlsein aber verursacht die nüchterne Feststellung: Es arbeiten doch nach den kritisierten Methoden zahlreiche Pädagogen und Chorleiter höchst erfolgreich, sind die denn alle doof?
Vor kurzem habe ich im Dozententeam eines wunderbaren Sommerkurses in Südtirol meinen Freund und Kollegen Yoshihisa Matthias Kinoshita wiedergetroffen und wie immer haben wir uns reichlich fachlich ausgetauscht, vor allem aber über den Tellerrand hinaus „philosophiert“. Und diesmal hat sich in den Gesprächen ein Kernthema herauskristallisiert, das mein Unwohlsein bei der Verarbeitung der oben genannten Leserzuschrift auf den Punkt gebracht hat. Weder die Suche nach der einzig wahren Methode noch das Jagen nach den einzig froh machenden und motivierenden Stücken für den Kinderchor (und jede andere Altersgruppe im Chor) werden zu nachhaltigem Erfolg führen. Positiv gesprochen gibt es einfach zu viele tolle Beispiele von Kolleginnen und Kollegen, die höchst unterschiedlich arbeiten, aber eines gemeinsam haben: großen hör- und sichtbaren Erfolg. Negativ gesprochen kann man aus jedem Werk und jeder Methode eine pädagogische oder künstlerische Katastrophe machen – auch dies leider nachgewiesenermaßen.

Mein Freund nun hat mir den Namen John Hattie ins Bewusstsein gehoben. Der neuseeländische Bildungsforscher ist seit etwa einem Jahr in aller Munde, in Deutschland vielleicht noch nicht so sehr wie im angelsächsischen Sprachraum. Aber auch hierzulande wird die „Hattie-Studie“ zunehmend häufig zitiert und sie sorgt zu recht für großes Aufsehen. Die Auswertung von einer schier unvorstellbaren Zahl einzelner Bildungsstudien hat Ergebnisse gezeitigt, die sich zwar allesamt auf Schule beziehen, aber ohne große Probleme auf die Chorleitung übertragen werden können. Und so schließt sich der Kreis zur eingangs erwähnten Leserzuschrift, denn das zentrale Ergebnis der Metastudie ist: Methoden, Unterrichtsformen, Klassengrößen und äußere Bedingungen sind unbedeutend oder zumindest absolut nachrangig im Verhältnis zur Person des Lehrers. Dies hieße im Übertrag auf unser Feld: Die Qualität des Chorleiters oder Chorpädagogen entscheidet über den Erfolg der Chorarbeit. Dies klingt zunächst so spannend wie die 637. Studie mit dem Ergebnis, dass keine Diät Bewegungsmangel ausgleichen kann. Aber liest man eine Ebene tiefer weiter, wird deutlich, dass mit Qualität des Lehrers nicht vorrangig gemeint ist, dass er Fach- und Methodenkompetenz besitzt. Vielmehr rückt die emotionale Seite des Lernens, ein echtes Betroffen-Sein vom Lerngegenstand in den Mittelpunkt und damit die Fähigkeit des Lehrers, eine persönliche Beziehung zu den Schülern im umfassenderen Sinne aufzubauen. Und Voraussetzung hierfür wiederum ist es, den eigenen Unterricht immer wieder mit den Augen der Schüler zu sehen und sich zu fragen: Bin ich klar, passt mein Handeln zu meinem Gegenüber und zur Situation, werte oder beschreibe ich? Viel Stoff zum Nachdenken und zur Selbstreflexion.

Ein letzter Übertrag sei gewagt: Hattie erklärt das Agieren von Schulpolitikern für weitgehend wirkungslos, das des Lehrers jedoch für absolut entscheidend. Lassen wir Chorpädagogen und Chorleiter uns also im gerade begonnenen oder beginnenden Schuljahr doch einfach nicht mehr zu sehr auf zeit- und kraftraubende Diskussionen um Rahmenbedingungen und Methodenstreitigkeiten ein – handeln wir selbst-bewusst und konstruktiv selbst-kritisch! Einverstanden? Leserzuschriften ausdrücklich erwünscht! 

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