Das amphitheatrale Rund der Kölner Philharmonie ist an diesem Abend doppelt seltsam gefüllt. Den gewohnten Halbkreis von WDR Rundfunkchor und Sinfonieorchester auf der Bühne komplettieren rund 150 weitere Sängerinnen und Sänger in den ersten zehn Publikumsreihen zu einem perfekt geschlossen Sing- und Spielkreis für Haydns „Schöpfung“. Zehn leere Sitzreihen dahinter schließen sich dann die Konzertbesucher an, damit ja keine ansteckenden Aerosole übergreifen. Im Mittelpunkt des Zirkels rotiert Dirigent Simon Halsey mit Einsätzen in die eine und andere Dichtung. Seit 2020 ist er „Kreativdirektor des WDR Rundfunkchores für Chormusik und außergewöhnliche Projekte“.
Diese Extrafunktion wurde eigens für ihn geschaffen. Nach jahrzehntelanger Tätigkeit als Chefdirigent in Hilversum, Newcastle, Berlin, London und Barcelona wollte sich der viel gefragte Chorleiter nicht abermals zu so viel Verantwortung und Bürokratie verpflichten. Stattdessen kommt er nun drei bis vier Mal pro Saison nach Köln, um „Crazy Projects“ zu realisieren: Mitsingaktionen, Opern mit Beteiligung von eintausend Kindern, Konzerte in Schulen, in Fabrikhallen, im Umland und mit neuem Repertoire. Halseys Vater war Chordirigent für Britten und Strawinsky, und er selbst genoss eine exzellente Ausbildung am Kings College und in Cambridge. „Selbstverständlich bin ich Musiker geworden. Aber auch mir mussten viele Dinge erst nahegebracht werden, bildende Kunst und auch Mozarts ,Don Giovanni‘, wo ich mich zuerst gelangweilt hatte.“ Erinnerungen an die eigene Unkenntnis und Unerfahrenheit motivieren Halsey heute, seinerseits neues Publikum zu erreichen. „Wenn junge Leute mit den Profis aus Chor und Orchester zusammenkommen, mit ihnen singen, sprechen und Kaffee trinken, dann wird die Kölner Philharmonie für immer ihr Zuhause sein, weil sie wissen, dass die Konzerte hier für sie selbst sind und nicht bloß für irgend eine Elite.“
Nach einer Teilaufführung der „Schöpfung“ mit 130 Jugendlichen aus Schulchören in NRW beteiligten sich beim kompletten Oratorium vorwiegend ältere Sängerinnen und Sänger aus Köln, Bonn und dem Umland. Viele von ihnen hatten das Werk bereits anderweitig gesungen, ein Drittel aber noch nie. Man übte die Partien zuerst in selbst organisierten Kleingruppen oder über Mitsing-CDs, etwa des Carus-Verlags. Anschließend gab es Online-Proben mit Chorprofis, Korrepetition und dem Dirigenten, dann Generalprobe und das Konzert. Karen Zäck, Amateursopranistin aus Bonn, war nach der vom Publikum mit stehenden Ovationen bedachten Aufführung ganz euphorisiert. „Das war ein absolutes Highlight, zumal nach den zwei bitteren Jahren“, in denen das Chorsingen durch strikte Corona-Auflagen nahezu verunmöglicht wurde. „Es war ein tolles Erlebnis! Ich hatte auch immer wieder Blickkontakt mit der Solosopranistin, das war sehr besonders.“
Selbst aus Berlin waren einige Mitwirkende angereist, natürlich wegen des Dirigenten, dessen Charisma und Begeisterung mitreißt. Als Simon Halsey mit den Berliner Philharmonikern und dem Rundfunkchor Berlin zu arbeiten begann, beteiligten sich anfangs fünfhundert, dann achthundert und schließlich bis zu zwölfhundert Menschen. Die Plätze für solche Beteiligungen waren dann binnen zehn Minuten vergeben. Jetzt könnte Ähnliches in Köln geschehen. Halsey hatte hier gerade mit Mozarts „Requiem“ und Mendelssohns „Lobgesang“ begonnen, doch dann kam Corona. Nun folgt der Neustart.
„Es gibt noch Ängste, in großen Gruppen zu singen. Aber Nordrhein-Westfalen ist ein Chor-Land und wir bauen eine Adressenliste von möglichen Mitwirkenden auf.“ Ziel ist es, neues Publikum zu erreichen. „Ein Chor braucht ein Leben in der Stadt, weil so viele Menschen gerne singen. Wir müssen diese Lücke überwinden durch besondere Projekte, Programme und Orte.“
Zum Christopher Street Day wird man das Gay-Oratorium „Considering Matthew Shepard“ des US-amerikanischen Komponisten Craig Hella Johnson zur deutschen Erstaufführung bringen. Das 2016 entstandene Werk gedenkt des homosexuellen Studenten, der 1998 in Wyoming von Kommilitonen an einen Zaun gekettet und misshandelt wurde, so dass er starb. Das Benefizkonzert zugunsten des Kölner queeren Jugendzentrums „anyway“ wird im WDR-Fernsehen sowie über große Videoprojektionen auf Plätze und Straßen übertragen. „Ich liebe Reinberger und Brahms! Aber jetzt singen wir nicht deren Werke in einer Kirche für zweihundert Leute, sondern machen für die ganze Stadt ein neues, modernes und relevantes Stück, das auch andere Menschen ansprechen wird.“
Halseys Massenmitsingaktionen erinnern an die bürgerliche Chorbewegung des 19. Jahrhunderts, wo bei Musikfesten an wechselnden Orten tausende Sängerinnen und Sänger zusammen kamen. „Ich komme“, so der Dirigent, „aus Birmingham, wo es von 1763 bis 1912 ein Musikfest gab und Uraufführungen von Mendelssohns „Elias“, Elgars „Gerontius“ sowie von Werken von Dvorák, Saint-Saëns, Sibelius und vielen anderen stattfanden. Vier Wochen später wurden diese Werke dann bei den Niederrheinischen Musikfesten in Düsseldorf oder Köln aufgeführt. Ich habe eine sehr persönliche Beziehung zu den Chortraditionen hier wie dort.“ In Köln möchte Halsey mit bekanntem und beliebtem Kernrepertoire beginnen, um möglichst viele Menschen anzusprechen, dann aber auch hierzulande weniger bekannt Werke erarbeiten, etwa Brittens „War Requiem“.
In Birmingham brachte Halsey das Oratorium „The Ordering of Moses“ zur europäischen Erstaufführung, um eine Verbindung zur Bewegung Black Lives Matter zu schaffen. Es wurde 1932 von Robert N. Dett komponiert, einem kanadischen Schwarzen und Sohn von Sklaven. „Da war das Publikum zum ersten Mal viel jünger und bestand zu mehr als einem Drittel aus Schwarzen. Nun mache ich die europäische Erstaufführung von „The Seven Last Words of the Unarmed“ von Joel Thompson, einem afroamerikanischen Kompositionsstudenten in Yale, der 2015 die letzten Worte von „black men before the police killed them“ vertonte. Und der Chor ist begeistert, weil es Musik von und für heute ist.“
Die Verhältnisse und Bevölkerungen in Birmingham, London, Barcelona, Berlin und Köln mögen verschieden sein, die Zielrichtung der Arbeit von Simon Halsey aber bleibt die gleiche. Auch mit dem WDR-Chor wird er Mitsingprojekte an Schulen unternehmen und versuchen, verstärkt Mitwirkende und Publikum mit beispielsweise türkischem Migrationshintergrund einzubeziehen. „Brexit-Britain nach Covid ist für Orchester, Chöre und Museen eine Katastrophe. Aber auch in Deutschland müssen wir uns nach Covid mehr engagieren, um das alte und ein neues Publikum zu bekommen.“