Für einen Moment blitzt vielleicht die Sentenz „Frisia non cantat“ von Tacitus im Kopf auf, wenn man von dem Kammerchorfestival Nordklang in Hamburg hört. Gern hat man Tacitus’ Weisheit, der wohl die Holländer gemeint hat, auf den ganzen norddeutschen Raum ausgedehnt. Im Hintergrund steht die Erkenntnis, dass nur Sklaven singen und ein Volk aus freien Bürgern eben nicht. Für diese Freiheit steht der Hamburger Wahlspruch „Es gibt keinen Herren über dir und keinen Knecht unter dir“.
Schon beim ersten Nordklang-Festival 2022 hatte Friederike Weinzierl vom Hamburger Amt für Kirchenmusik angemerkt, dass es in Hamburg eine vielfältige und leistungsstarke Chorszene gibt, die „in Hamburg selbst viel zu wenig zur Kenntnis genommen wird“. Als Beleg dafür führte sie damals an, dass allein beim Deutschen Chorwettbewerb in Freiburg 2018 sechs Hamburger Chöre mit Preisen ausgezeichnet worden waren und auch auf anderen internationalen Wettbewerben immer wieder Hamburger Ensembles unter den Preisträgern seien.
Nach dem Erfolg des Nordklang-Festivals 2022 hat man das damalige Konzept mit Konzerten, Workshops und den unterschiedlichsten Angeboten rund um das Chorsingen auch für dieses Jahr übernommen. So standen die ersten Festivaltage – fernab von Zuhörern und Zuschauern – ganz im Zeichen der Begegnung und Fortbildung von Sängern und Chorleitern. Gerade bei den Sängern ist eine Fortbildung in der regelmäßigen Chorarbeit eher selten bis gar nicht vorgesehen. Über ein gutes Einsingen vor der Chorprobe hinaus wird das Thema der persönlichen Stimmbildung der einzelnen Sänger oft sehr stiefmütterlich behandelt. Mehr noch: in Laienchören ist sie oft überhaupt nicht vorgesehen.
Input für Chorleiter
Aber auch die Chorleiter brauchen immer wieder neuen Input, um die Chorsänger bei der Stange halten und sich in der Szene vernünftig profilieren zu können. Für sie gab es unter anderem einen Chorleitungsmeisterkurs mit Anne Kohler, die die Professur für Chorleitung an der Hochschule für Musik Detmold innehat und neben anderen Ensembles auch den Bundesjugendchor des Deutschen Musikrates leitet. Die Möglichkeit eines Ringtausches bei den Chören und ihren Chorleitern ermöglichte es den Chorleitern, ihren Chor einmal aus der Zuhörerperspektive erleben zu können und auch die Potenziale ihrer Sänger zu erleben, die andere Chorleiter aus diesen herauskitzeln. Ein runder Tisch der Chorleiter ermöglichte noch einmal einen besonderen Erfahrungsaustausch.
Im zweiten Teil des Festivals konnte man unter anderem die Ergebnisse des Chorleitungsmeisterkurses hören und das hohe Niveau einer nachrückenden Chorleitergeneration genießen. Dazu kamen über zwanzig „hochkaratige Chöre“ (so die Veranstalter) aus Hamburg und Norddeutschland, die sich im Eröffnungskonzert und in Begegnungskonzerten dem Publikum stellten – unter ihnen der Norddeutsche Kammerchor (Leitung Maria Jürgensen), hamburgVOKAL (Matthias Mensching), der Harvestehuder Kammerchor (Edzard Burchards), das Cuori-Ensemble und das stimmwerk hamburg (beide: Eva Hage), das NDR Vokalensemble (Klaas Stok) und der 2023 neugegründete Landesjugendchor Hamburg (Cornelius Trantow). Neben der „klassischen“ A-cappella-Chormusik, die mit Werken von Thomas Tallis bis hin zu zeitgenössischen Komponisten den Hauptteil des Programms ausmachte, gab es wie vor zwei Jahren, als Stephan Lutermann, der künstlerische Leiter des Chores „Choreos“, und der Choreograph Lars Scheibner Chorgesang, Raum und Bewegung zu einer dreidimensionalen Chorperformance verbanden, zwei besondere Schmankerl mit auswärtigen Künstlern.
Vier Mitglieder des NDR Vokalensembles sangen Werke von Claudio Monteverdi, die von dem Weltmeister des Beatboxings, Daniel Mandolini (Künstlername: Mando Beatbox), inhaltlich moderiert und klanglich unter-, über- und angemalt wurden. Das Ergebnis ist ein Monteverdi, der möglicherweise im ersten Moment ein wenig gewöhnungsbedürftig ist, aber eine faszinierende, tiefenverständliche(re) Interpretation erschafft. In jedem Fall war der Hörsprung vom Berliner Barockensemble „Polyharmonique“, das das Konzert direkt zuvor mit einem geistlichen Programm von Michael Praetorius bis Christoph Bernhard bestritten hatte, immens.
Nur Leuchttürme?
Fazit: Hamburg und seine Bewohner singen! Einzig die Höhe des Festivals ist ein wenig erschreckend. Carsten Brosda, der Hamburger Senator für Kultur und Medien, schreibt in seinem Grußwort einen Superlativ nach dem nächsten: „auf höchstem Niveau“, „Kulturbotschafter“, „herausragendes Programm“. All das stimmt ohne Abstriche, wer sich in diesen Tagen die Zeit für Nordklang genommen hatte, war voll auf seine Kosten gekommen.
Brosda bemüht aber leider noch das Bild der „Leuchtturm“-Ensembles. So viele Leuchttürme, wie er hier in Hamburg sieht, werden auf Dauer aus vielerlei Gründen nicht das Licht spenden können, das eine weltoffene, multikulturelle und diverse Gesellschaft auch am unteren Turmende – da, wo es stockdunkel ist – dringend benötigt. Bertolt Brecht weiß: „Und die im Duneln sieht man nicht.“ Also: aufpassen, dass die Basis nicht wegbricht!