Johann Sebastian Bachs herrliche Kantate „Wir danken dir, Gott, wir danken dir“ (BWV 29) ist ein wahrhaft festliches Werk. Bach hatte die handschriftliche Partitur der Kantate, die zu seinen Lebzeiten insgesamt dreimal aufgeführt wurde, mit dem Hinweis „Bey der Raths-Wahl 1731“ versehen. Zu einem festlichen Anlass wurde sie nun am 8. Oktober 2022 unter Leitung von Achim Zimmermann in der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche im Rahmen eines Festgottesdienstes aufgeführt, bei dem Bischof a. D. Prof. Dr. Wolfgang Huber die Liturgie vornahm: an diesem Tag jährte sich der erste Bachkantaten-Gottesdienst in Berlin zum 75. Male.
Begonnen hatte es am Ostersonntag, den 6. April 1947, als die Kantate „Christ lag in Todesbanden“ von der Spandauer Kantorei und einem Instrumentalensemble unter der Leitung von Gottfried Grote in der Steglitzer Matthäuskirche aufgeführt wurde. Die Predigt hielt damals Kirchenrat Theodor Wenzel, der Direktor der Inneren Mission. Ein von ihm ins Leben gerufener „Arbeitskreis für Kantate-Gottesdienste“, der Musikwissenschaftler und Theologen, Vertreter der Kirche und praktizierende Kirchenmusiker versammelte, war der entscheidende Impuls für die inzwischen zur Institution gewordenen Berliner Bachkantaten-Gottesdienste. Zehn Jahre später, am 25. Mai 1957 gründete Hanns-Martin Schneidt, der damalige Direktor der Berliner Kirchenmusikschule, das Bach-Collegium aus einem Kreis von Instrumentalisten verschiedener Berliner Orchester. Nach der Fertigstellung der neuen Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche erhielten die Kantaten-Gottesdienste ihr neues Zuhause. Mit einer Aufführung der Kantaten I-III des „Weihnachtsoratoriums“ trat der ebenfalls von Hanns-Martin Schneidt gegründete und mit dem Bach-Collegium satzungsmäßig verbundene Bach-Chor am 17. Dezember 1961, dem Tag der Einweihung der neuen Gedächtniskirche, zum ersten Mal an die Öffentlichkeit.
Mit dem Ende der Teilung Berlins wurde die Zeitlosigkeit der Kantaten-Gottesdienste deutlich: ihre Bedeutung für Berlin blieb erhalten, wie die nach wie vor hohen Besucherzahlen zeigen. Nach Hanns-Martin Schneidt und Helmuth Rilling war es der Organist, Dirigent und Musikwissenschaftler Karl Hochreither, der von 1964 an - sage und schreibe 37 Jahre lang – die Geschichte des Bach-Chores und des Bach-Collegiums und damit auch die musikalische Entwicklung der Kantaten-Gottesdienste prägte. Für Achim Zimmermann, der 2002 zum neuen Leiter von Bach-Chor und -Collegium berufen wurde und damit Hochreithers Nachfolge antrat, ist dessen Wirken gar nicht hoch genug einzuschätzen: „Er verkörperte die Institution ‚Bachkantaten-Gottesdienst an der KWG Berlin‘ wie keiner vor ihm. Hochreither war es auch, der den Chor über Jahrzehnte am Laufen hielt!“
Leipziger Gottesdienste
Die Bilanz von Zimmermanns bisher zwanzigjährigem Wirken ist nicht nur unter künstlerischem Aspekt bedeutend – etliche der durch ihn vorgenommenen Veränderungen trugen zu dieser Bilanz bei. So etwa die Einführung der Hochschulkantaten – Studenten des Fachs „Chorleitung“ der UdK und der Eisler-Hochschule musizieren gemeinsam mit dem Bach-Chor. Sie stellen dabei den Dirigenten und die Solisten. Mit Martin Petzoldt, dem 2015 verstorbenen Theologen und Bach-Forscher regte Zimmermann die Durchführung sogenannter „Leipziger Gottesdienste“ an. Sie orientierten sich an denen, wie sie zu Zeiten Bachs in Leipzig zelebriert wurden, auch wenn sie nicht ganz so lang wie jene waren. Mit Zimmermann etablierten sich auch A-cappella-Konzerte im Programm der Gedächtniskirche, zudem beteiligt sich der Chor an der Ausgestaltung von Gottesdiensten. „Wir sind ja nicht der Chor der Gedächtniskirche. Wir sind dort als eingetragener Verein zu Gast, fühlen uns aber, um das deutlich zu sagen, nicht als Gäste, sondern als Teil der Gemeinde. Deshalb war und ist mein Bestreben, diese Gegenseitigkeit, die es in so einem Verhältnis braucht, auch von uns aus zu befördern. So singen wir zum Beispiel Heiligabend auch bei der Christvesper“.
In der Regel spielen Bach-Chor und -Collegium jährlich 15 bis 16 Kantaten. In der Entscheidung, welche der Kantaten zu welchen Sonntagen des Kirchenjahres gesungen werden, sieht Achim Zimmermann eine seiner wesentlichen Aufgaben. „Dazu kommen zwei große Konzerte und die Teilnahme an diversen Gottesdiensten“, erzählt er.
Die Frage der Finanzierung
Nicht nur, dass der Chor damit absolut ausgelastet ist – die Finanzen haben bisher auch nicht mehr hergegeben. Die Musiker, allesamt Spezialisten von Spitzenorchestern der Stadt, bewältigen, ebenso wie die Solisten, dieses enorme Pensum neben ihren zahlreichen anderen Verpflichtungen – weil sie die Musik Bachs und die Kantaten-Gottesdienste als solche lieben.
Von Beginn an ist die Finanzierung des Zyklus ein wichtiger, unabdingbarer Aspekt, als dessen vier Säulen Zimmermann die Förderung durch Kirche und Senat, die Kollekten und schließlich Spenden nennt. „Bei den Kantatengottesdiensten werden ja keine Eintrittspreise erhoben. Aber durch die Förderung und nicht zuletzt auch durch ein erhöhtes Spendenaufkommen, sowohl aus dem Kreis der Kantatengemeinde als auch aus dem Chor, sind wir momentan noch in der Lage, die laufend steigenden Kosten aufzufangen.“
Bachs erhellender Brief
Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist ein Brief Johann Sebastian Bachs, den dieser am 23. August 1730 unter der Überschrift „Kurtzer; iedoch höchstnöthiger Entwurff einer wohlbestallten Kirchen Music; nebst einigem unvorgreiflichen Bedencken von dem Verfall derselben“ an den Leipziger Rat schrieb. Zum einen gibt er zu erkennen, in welchen instrumentalen und vokalen Kategorien Bach bei der Komposition und der Aufführung seiner Kirchenmusik an den vier Leipziger Kirchen dachte. Detailliert benennt das Dokument die aus seiner Sicht notwendigen Besetzungen der Orchester und der Chöre – mit Blick auf die heutige Aufführungspraxis des Bach’schen Kantatenwerkes ein Dokument von kaum zu überschätzender Bedeutung. Aber auch vor dem Hintergrund der aktuellen kulturpolitischen Situation und im Zusammenhang mit dem Jubiläum „75 Jahre Bachkantate-Gottesdienste in Berlin“ weist Bachs Brief in seinem Anliegen durchaus aktuelle Parallelen auf.
Die enorme künstlerische und kulturpolitische Bedeutung der Zusammenarbeit von Bach-Chor und -Collegium auf der einen und der Evangelischen Kirche und dem Berliner Senat auf der anderen Seite manifestiert sich nicht allein in dem jetzt feierlich begangenen Jubiläum. Die Ausstrahlungskraft dieser im besten Sinne „kulturellen Institution“ reicht weit über die Grenzen Berlins und Deutschlands hinaus, wie unlängst Einladungen zum Leipziger Bach-Fest zeigten – wer heute die Kantaten-Gottesdienste und die Konzerte des Bach-Chors in der Gedächtniskirche besucht, erkennt das auf den ersten Blick.
Dieses hohe Gut und den hohen künstlerischen Anspruch zu bewahren, ist Antrieb und Motivation des Bach-Chors und seines Leiters Achim Zimmermann – sie werden auch in Zukunft auf das gute Miteinander von Landeskirche, Berliner Senat und privaten Unterstützern angewiesen sein.
Eine solchermaßen „wohlbestallte Kirchen Music“ wäre gleichwohl zum Nutzen und zur Erbauung aller!