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Manfred Bender. Foto: DCfC
Manfred Bender. Foto: DCfC
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Für jede Chornote ein Dach überm Kopf

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Zu Besuch im Deutschen Centrum für Chormusik, Limburg
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Steile Gassen, verwinkelte Fachwerkhäuser mit Geranien vor den Fenstern, gut gelaunte Touristen und Kinder, die auf dem Parkplatz Fußball spielen. Wer an einem Sommertag durch die Altstadt Limburgs schlendert, wähnt sich im Urlaub. Mittendrin im Gewirr der Gassen steht eines der ältesten Häuser Deutschlands, das „Gotische Haus“ – erbaut im 13. Jahrhundert.

Draußen brütet die Sommerhitze, drinnen ist es kühl und dunkel. Nicht nur wegen der dicken Wände und kleinen Fenster, sondern auch wegen der Notenregale, die die Wände säumen. Jeder Fleck scheint von Notenbänden bedeckt. Das „Gotische Haus“ beherbergt das „Deutsche Centrum für Chormusik“. Hier lagere „alles, was irgendwann einmal an Chormusik verlegt wurde und wird“; das ist zumindest der Anspruch von Manfred Bender, dem Gründer und Leiter des Zentrums. Eine „Arche Noah“ wurde das Haus einmal genannt, ein Ort, an dem Chormusik vor ihrem Vergessen gerettet und Chorleitern zugänglich gemacht werden soll: Etwa 290.000 Chorwerke lagern nun auf 500 Quadratmetern. Und mit jedem Monat kommen 1.000 Notenbände dazu.
Sehnsucht nach der Noten-Hardware

Wenn das DCfC die „Arche Noah“ ist, dann muss Manfred Bender „Noah“ sein. Er ist Herz, Kopf und Hand des Zentrums. Seit 30 Jahren sammelt und ordnet er Chormusiknoten. Ursprünglich hatte Manfred Bender Physik und Chemie auf Lehramt studiert, doch bald merkte er, was ihn eigentlich antrieb: das Singen mit Chören. Also sattelte er zum Chorleiter um und leitet nun seit 1980 diverse Kinder-, Jugend- und Erwachsenenchöre. „Deutschland war in Sachen Chormusik ein Dritte-Welt-Land. Wer außer den ‚großen‘ Chorwerken oder dem Liedgut eines Männergesangsvereins noch anderes singen wollte, kam nur mühsam an Noten.“

Und noch ein Mangel fiel ihm auf: Es gab keine Datenbank für Chormusik. Nachdem er zunächst eine eigene Datenbank an seinem C64er aufbaute, schloss er sich bald Musica International, der internationalen Datenbank der „International Federation of Choral Music“ (IFCM) an. Aber: „Das war nur digital, ich wollte auch die ‚Hardware‘“, also die Noten. Und die begann er zu sammeln. Als sich die „Motettenhaufen“ auf dem Nachttisch seiner Frau stapelten, musste ein eigener Platz für  die Noten gefunden werden. Über mehrere Umwege gelangte Bender 1996 mit seinen Noten nach Limburg in das „Gotische Haus“ – auf Einladung des damaligen Limburger Bürgermeisters.

Jetzt befinden sich also tausende von Werken in den alten Räumen, auch ein „Audioraum“ mit CDs und Schallplatten ist vorhanden. Aber das Haus ist kein Museum und nicht für die breite Öffentlichkeit geöffnet. Es sind Chorleiter, die Manfred Bender mit seiner Sammlung lockt. Auf deren Bedürfnisse ist die Sammlung und ihre Ordnung zugeschnitten. Nur wer auch einen Chor leitet, kann Mitglied des DCfC werden. Bender möchte mit seiner Sammlung ein oft beobachtetes Problem lösen: „Ein Chor möchte ein neues Programm erarbeiten und der Chorleiter muss sich auf die Suche nach passenden Noten machen. Wer bei Verlagen anfragt, kann oft nur kostenpflichtig Noten in Chorstärke bestellen. Das ist aufwendig und teuer. Außerdem erhält man nur das, was man sucht, aber nichts Unbekanntes.“ Auf der Homepage des DCfC kann der Chorleiter sich schon von zu Hause aus die jeweils erste Seite eines Werkes anschauen. Meist reiche ein erster Eindruck, so Bender, um ein Werk in die engere Auswahl nehmen zu können – in Zukunft möchte er aber noch mehr Bestände digitalisieren. Für die weitere Recherche muss man nach Limburg, die Bibliothek ist eine Präsenzbibliothek. Aber dort genießt man den Vorteil der persönlichen Beratung: „Meine Sammlung ist wie eine kleine Boutique; dort weiß der Verkäufer auch, was zu dem Kunden passt.“ Bender schöpft aus der Zusammenarbeit mit zahlreichen Chorleitern, Komponisten, Verlegern und der eigenen praktischen Arbeit. „Ich weiß zum Beispiel, welche Erfahrungen der Kollege mit einem Stück gemacht hat und kann diese weitergeben.“ Durch persönliche Gespräche entstehen Projekte und Konzertprogramme.

„Ich nehme alles auf, sonst wäre ich ja Gott!“

Doch wie kommt Manfred Bender zu seinen Noten? Zu circa 2.000 Verlagen aus aller Welt hält er Kontakt, viele von ihnen senden ihm die neuen Noten automatisch zu. Falls er mal länger nichts bekommen habe, würde er eben anrufen. Das habe er im Kopf. Außerdem bittet Bender zahlreiche Komponisten um die Noten ihrer Uraufführungen. Schließlich wollen auch diese, dass ihre Werke aufgeführt werden. Es gibt nichts, was Bender nicht in seiner Sammlung einarbeiten würde: „Ich nehme alles auf, sonst wäre ich ja Gott!“ Von Bach-Kantaten zum Schlager-Hit aus dem letzten Jahr, vom Volkslied bis zur zeitgenössischen Oper, von Alaska bis Zypern; hier findet sich alles. Und wenn ein Werk doch mal nicht da sein sollte, dann setzt Bender sich ans Telefon und ruft die Verlage an; irgendwie klappt es immer.

Wer also ein neues Programm für das nächste Chorkonzert erstellen möchte, muss nicht zig Belegexemplare der Verlage anfordern – die in manchen Fällen ebensolche gar nicht rausrücken wollen –, sondern kann sich die Noten in Limburg anschauen und vielleicht auch probehören. Wer dann tatsächlich fündig geworden ist, kann die Noten über einen mit dem DCfC kooperierenden Notenvertrieb bestellen. Das Zentrum selbst dient nicht dem Verkauf, sondern der Aufbewahrung, Information und Zusammenkunft. Auch Workshops organisiert Bender in Limburg, zu denen Komponisten wie Arvo Pärt oder Peteris Vasks kamen, um ihre Chorwerke den anwesenden Chorleitern vorzustellen und mit ihnen zu singen. In Planung sind neben dem bestehenden Chorleiter-Forum auch ein Komponisten- und ein Verleger-Forum.

Festangestellte Mitarbeiter gibt es keine, aber immer mal wieder helfen FSJler oder junge Menschen vom Bundesfreiwilligendienst. Und natürlich gibt es zahlreiche Unterstützer, die dem DCfC und Manfred Bender verbunden sind. Wer die vielen Noten sieht, das beeindruckende Haus und die Arbeit, die Bender in das Zentrum steckt, der fragt sich bald, wie das alles finanziert wird – in Zeiten, in denen jedes Opernhaus oder Bibliothek über Geldnot klagt. Denn das DCfC ist an keine Institution angebunden. Etwas Stolz schwingt auch mit, wenn Bender sagt, er habe „noch nie öffentliche Fördermittel erhalten“. Finanziert wird das DCfC also über die Mitgliedsbeiträge der Chorleiter und Spenden. Viele Verlage überlassen Bender die Noten kostenlos; auch sie haben den Nutzen des Zentrums für ihre Zwecke erkannt. Manfred Bender selbst arbeitet de facto „ehrenamtlich“. Das DCfC ist ihm eine Herzensangelegenheit und sein Lebenswerk. Auch deshalb denkt Bender schon an die Zukunft seiner Sammlung. Er würde sich freuen, wenn eine größere Institution die Noten übernehme, sei es eine Bibliothek, sei es eine Musikhochschule. Noch gibt es aber keine konkreten Überlegungen, noch ist der Schatz in der Limburger Altstadt zu bewundern. Man kann in alten Werken und den neuesten Editionen stöbern oder mit Manfred Bender Geschichten und Erfahrungen austauschen.

Und wenn man an einem heißen Sommertag wieder aus der Kühle des „Gotischen Hauses“ heraustritt, dann fühlt man sich nicht nur, als ob man im Urlaub gewesen sei, sondern auch ein wenig aus der Zeit gefallen. In alten Gemäuern blätterte man ganz „altmodisch“ in Papier; dann macht man sich wieder auf den Weg hinaus. Und der ICE führt den Besucher in rasender Geschwindigkeit zurück in die hektische Betriebsamkeit des nahen Frankfurter Bahnhofs. 

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