Die chor.com ist nach Hannover umgezogen und hat ihr bewährtes Konzept mitgenommen: Forum, Workshops und Konzerte. Der Begriff „Festival der Vokalmusik“ für Letztere ist zutreffend, denn die chor.com bietet zwar vor allem, aber eben nicht nur Chor. Sie präsentiert auch kleinere und vor allem junge Vokalformationen – die Szene ist in Bewegung.
Da viele Konzerte gleichzeitig stattfanden, andere aufgrund der Entfernungen der Spielorte und leider vereinzelt auch durch zu lange Programme in der ersten Zeitschiene nicht hintereinander erreichbar waren, hatte man die Qual der Wahl. Hier sollen sechs Schlaglichter das breite Spektrum wenigstens anreißen.
„Gravity“
Der Landesjugendchor Niedersachsen tritt gleich am ersten Abend mit „Gravity“ auf. Teile des Werkes „Our Voices“ für Solomezzosopran (hoch inspiriert: Winnie Brückner), präpariertes Klavier (ebenso fantastisch: der Komponist Stefan Schultze selbst) und natürlich für Chor werden unter der Leitung von Claudia Burghard zu einem faszinierenden Gesamtkunstwerk aus Raumgestaltung, Bewegung und weitgehend improvisierter Musik. Der Chor steht in seiner hervorragenden Leistung den Solisten und seiner Leiterin in nichts nach, man ist gefesselt vom ersten bis zum letzten Ton nicht nur von den jungen, sehr gut geführten Stimmen, sondern auch von der professionellen Ausführung der weitestgehend improvisierten Gesänge. Was da eigentlich gesungen wird, kann man aufgrund eines mehr als dürftigen Programmzettels, dem auch die Lektüre des Programmbuches nur bedingt aufhilft, allerdings kaum nachvollziehen. Das japanische Gedicht „Iroha-uta“ wäre mit gerade einmal 18 Wörtern der wörtlichen Übersetzung sowohl abzutippen als auch drucktechnisch unterzubringen gewesen, selbst weitere Informationen hätten den Rahmen noch nicht gesprengt. Warum nörgeln wir hier? Weil zeitgenössische Kunst durch erklärende Hilfen noch besser vermittelt werden kann – auch dies müsste eine chor.com exemplarisch vorführen.
„Messiaen und Gesualdo: ein musikalischer Dialog“
Über dieses Programm des Norddeutschen Figuralchors unter Jörg Straube werden wir im Programmbuch ein wenig mehr aufgeklärt, aber auch hier darf man vermuten, dass nur wenige Zuhörer die höchst interessanten Hintergründe zu Messiaens „Cinq Rechants“ oder deren Texte kennen und wahrscheinlich auch nicht alle die zu Gesualdos Madrigalen. Dabei würde der programmatisch hoch spannende Dialog um so vieles eindrücklicher, wenn man die in schwebender Atonalität (Messiaen) oder sich auflösender konventioneller Harmonik (Gesualdo) ausgedeuteten Liebesgedichte unmittelbar nachvollziehen könnte. Die Leistungen des Chores und des Dirigenten sind über jeden Zweifel erhaben: Diese schweren Partituren klingen eben nicht mehr „schwer“, der Farbenreichtum der erfahrenen Sängerinnen und Sänger übersteigt bei weitem den der vielen faszinierenden jugendlichen Ensembles, fällt aber nie in die kritische Region der „wenn-Solisten-Chor-singen-Gefahr“. Und dann bekam man ja eigentlich zwei Konzerte geboten, denn Messiaen und Gesualdo hätten für dieses Festivalformat ausgereicht – das wunderbar gesungene und gespielte „Te Deum“ von Mendelssohn (Ulfert Smidt an der Orgel) hatte zum Vorangegangenen, gelinde gesagt, wenig Bezug und war nicht wenigen Zuhörern sichtlich einfach zu lang.
„I Himmelen“
2018 hat der Jugendkonzertchor der Chorakademie Dortmund den 1. Preis beim Deutschen Chorwettbewerb gewonnen. Niemand in der leider nicht voll besetzten Marktkirche hatte nach diesem Konzert Zweifel, ob das berechtigt ist. Was Felix Heitmann sichtlich ohne Drill oder Dressur sondern mit Intensität und der Jugend höchst zugewandt aus diesen sehr jungen Stimmen (14 bis 19 Jahre alt) herausholt, ist aller Bewunderung wert. Makellose Klangschönheit, stets ausgewogener Chorklang, eine für diese jungen Jahre bemerkenswerte dynamische Bandbreite, Stilsicherheit und Sinn für Dramaturgie beim Dirigenten. Hinzu kam die höchst sympathische und sinnvolle Bitte, nur nach der Uraufführung („Stillae“ von Mårten Jansson – ein tolles Stück!) zu applaudieren sowie ein vom Chor mitgebrachtes Programmheft, in dem Texte mit Übersetzungen und klugen Hintergrundinformationen vom Dirigenten selbst vorbildlich einen tiefgehenden Konzertgenuss ermöglichten. Frappierend: Da stehen junge Menschen, wechseln höchstens der Stimmaufteilung geschuldet ab und an den Standort, tanzen nicht, gestikulieren nicht – und dennoch ist es ein höchst lebendiges, packendes Konzert, das alle Anwesenden zutiefst berührt.
„The Tyger“
Wieder 16 junge Menschen, diesmal etwas älter, sie singen deshalb klanglich anders, aber ebenso herausragend wie die Dortmunder, das Publikum ist gefesselt und berührt ob eines abermals höchst lebendigen Konzertes. Der Hauptunterschied: Die „Choreos“ sind nicht nur exzellente Chorsängerinnen und Chorsänger, sondern sie sind auch ausgezeichnete Ausdruckstänzer und Schauspieler. Die Vision des Gründers und Dirigenten Stephan Lutermann, Singen und Bewegung auf neue Weise zu vereinen, geht voll auf – weit weg von jedem Showchoir oder ähnlichem. Lars Scheibner zeichnet für eine pointierte und rundum stimmige Choreografie verantwortlich, Lulius Schepansky ist kongenialer Partner des Chores auf dem Akkordeon. Das titelgebende Gedicht in zwei Vertonungen sowie „The Lamb“ bilden den Rahmen für eine äußerst klug gewählte Folge von Kompositionen, die man sich nach diesem Abend teilweise nur mehr in dieser getanzten Version vorstellen mag. Für nicht wenige im Raum dürfte das die Entdeckung des Festivals gewesen sein.
„Entdeckungen!“
Dieses Konzert hält, was der Titel verspricht, denn die vom glänzend aufgelegten Mädchenchor Hannover und vom höchst inspiriert dirigierenden Andreas Felber dargebotenen Stücke (von Hans Huber, Lili Boulanger, Petr Eben und anderen) sind faszinierend und werden selten aufgeführt. Warum? Weil man eben auch einen Spitzenchor braucht, um sie so klangvoll und differenziert umzusetzen. Dieser mehr als starke Teil war die längste Komponente des Konzertes. Sicher waren aber nicht nur Fans gleichstimmiger Chorliteratur in der Christuskirche, sondern auch welche von Voces8. Zur Präsentation der Workshopergebnisse versprechen wir an dieser Stelle einen ausführlicheren Beitrag in der nächsten nmz.
„Verleih uns Frieden“
Und wieder sind es junge Choristen, die auf der Bühne stehen, offensichtlich bezahlte Profis, die sich mit dem Gründer des Ensembles „Lauschwerk“, Martin Steidler, ganz Heinrich Schütz verschrieben haben. Sehr schön war der Kontrast und gleichzeitig die Ähnlichkeit zwischen Geistlicher Chormusik 1648 und den Kleinen geistlichen Konzerten zu erleben, ein programmatisch überaus reizvoller Ansatz. Sie singen wunderschön, vom Spezialisten historisch bestens informiert, technisch beinahe makellos und von den Instrumentalisten immer fein begleitet. Feststellungen dieser Art sind immer sehr subjektiv, aber: bei aller bestechender Qualität will der Funke, die tief gläubige Klangrede des Kirchenmusikers Schütz nicht so ganz überspringen. Vielleicht ist das dann doch auch der Tatsache geschuldet, dass man in einem live bei Deutschlandradio Kultur gesendeten Konzert sich vor allem keine Blöße geben, nichts falsch machen will. Vielversprechend jedenfalls war dieser Aufschlag in der Szene allemal und man darf gespannt lauschen, was da noch kommt.