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„I am like many“: das Vokalensemble VoNo bei der chor.com 2024. Foto: Katharina Gebauer

„I am like many“: das Vokalensemble VoNo bei der chor.com 2024. Foto: Katharina Gebauer

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Neue Impulse für eine Chorszene im Wandel

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Eindrücke von der siebten Ausgabe des Branchentreffs chor.com · Von Marleen Hoffmann
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Die chor.com 2024 widmete sich unter dem Motto „Auf- und Umbrüche – neue Perspektiven für die Chormusik“ den aktuellen Themen und Trends der Chorwelt.

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Bereits zum dritten Mal fand die chor.com, der vom Deutschen Chorverband (DCV) veranstaltete Branchentreff der Chorszene, in der Unesco City of Music Hannover statt. Nach den schweren Coronajahren konnten sich vom 26. bis 29. September endlich wieder Chorbegeisterte und Fachpublikum ohne Einschränkungen im Hannover Congress Centrum und weiteren Konzertorten der Stadt versammeln, um an über 160 Workshops, Reading Sessions, kulturpolitischen Talks, Offenen Singen und drei Master Classes sowie an 22 Konzerten teilzunehmen. Rund 1.400 Teilnehmer*innen und Mitwirkende waren angereist, um sich über die aktuellen Trends zu informieren und auszutauschen, um sich bei renommierten Chorleiter*innen und Ensembles, bei Musikverlagen und Verbänden weiterzubilden oder um ihre eigenen Projekte vorzustellen. Rund 70 internationale Aussteller aus verschiedenen Musikbereichen präsentierten außerdem ihre Produkte im chor.com-Forum, wo auch die Musik-Installation „Song Alang“ der Vision Kirchenmusik zum Mitmachen einlud. Ebenfalls mit dabei waren wieder nationale und internationale Spitzenensembles aller Chorgattungen von Klassik (Junges Vokalensemble Hannover, Kammerchor I Vocalisti) bis Pop/Jazz (Jazzchor Freiburg, Vivid Voices, Neilon), von Vocal Bands (Unduzo, Postyr, Pust, LowKey) und Vokalensembles (StimmGold Vokalensemble, Voces8, Voktett Hannover, VoNo) bis hin zu Konzertchören (Konzertchor der HMTMH, Mikaeli Chamber Choir), vom Knaben- und Männerchor (Neuer Männerchor Berlin, ffortissibros, Windsbacher Knabenchor) sowie Mädchenchor (Mädchenchor Hannover) bis hin zu den Jugendchören (Landesjugendchor Sachsen, Rundfunk-Jugendchor Wernigerode, Bundesjugendchor).

KI und Digitalisierung

Für alle Beteiligten wurde eines deutlich: Die Chorwelt heute ist, zumindest im semiprofessionellen und professionellen Bereich, nicht mehr dieselbe wie vor Corona. Das zeigte sich sicherlich auch durch die Schwerpunktsetzung auf Auf- und Umbrüche. Künstliche Intelligenz und Digitalisierung war ein großes Thema, mit dem sich Verbände und Musikverlage, aber auch einzelne Chöre intensiv auseinandersetzten. So präsentierte der junge Männerkammerchor ffortissibros gleich bei der Eröffnung eine beeindruckende, aber für viele auch gewöhnungsbedürftige experimentelle Interaktion mit einer KI, um die Chancen und Grenzen des derzeitigen Standes im Bereich KI-Tools für Komposition vorzustellen. Darüber hinaus gab es Workshops zu den digitalen Themen Social Media (Plattformen, Postings, Storytelling, Videoerstellung), digitale Musikvermittlung (Music Swap Lab), Onlineressourcen, Chorverwaltung (Chorsystem Singste), digitale Chornoten (Carus, Breitkopf & Härtel, Universal Edition) oder auch zum europäischen Datenbankprojekt SWAN – Singing With Additional Needs. Die Bandbreite an digitalen Themen ist groß, genauso wie diejenige an Apps und digitalen Tools, etwa der Musikverlage, oft zum Bedauern der Nutzer*innen, die sich hier Standardsoftware und -formate wünschen würden, zum Beispiel für digitale Noten oder Übe-Tracks. 

Im kulturpolitischen Talk „KI – Chancen und Visionen für die Chorpraxis“ ging es um die derzeitigen Möglichkeiten, das Kreativitätsniveau in der Interaktion von Mensch und KI auf ein neues Level zu heben, und um eine Ermutigung, KI-Tools verantwortungsbewusst zu nutzen. Sowohl im Talk als auch in den Workshops zu Social Media wurde aber auch über die Gefahren diskutiert, zum Beispiel durch Hate ­Speech im Netz oder dass die Digitalisierung zum Verlust von Menschlichkeit und Vereinsamung führen könne. 

Ein weiterer Trend zeichnete sich in Bezug auf das klassische Chorkonzert ab, denn dieses wurde durch verschiedenste Mittel versucht, aufzulockern oder aufzubrechen. So wurden szenische Elemente, Choreografien, Kostüme und Requisiten gerade auch von klassischen Ensembles und Chö­ren vermehrt eingesetzt, sodass das Publikum theatrale und tänzerische Inszenierungen präsentiert bekam (u.a. Landesjugendchor Sachsen etc.: „Bach in (E)Motion“, Mädchenchor Hannover: „Mittendrin“ und besonders herausragend VoNo: „I Am Like Many“). 

Außerdem experimentierten Chöre mit musikalischer Improvisation, sei es solistisch, chorisch, mit Instrumentation oder auch mit Elektronik oder KI, und zwar nicht mehr nur im Bereich Neuer Musik oder Jazz, sondern auch in Bezug auf klassisch-historische Werke (u.a. Kammerchor I Vocalisti: „Aurum Spiritus“, Postyr: „We’re in This Together“). Des Weiteren fand eine wesentlich stärkere Einbeziehung des Publikums statt, zum Beispiel in Form von Mitmachaktionen vor dem Konzert (VoNo) oder durch die Aufhebung der Trennung zwischen Zuschauer- und Bühnenraum. 

In der Programmplanung wiederum wurden stärker aktuelle gesellschaftspolitische Themen berücksichtigt wie der Klimawandel oder der Wunsch nach Frieden (StimmGold Vokalensemble/ Fallwander: „Durch den Wald: Klimawandel im Konzert“, VoNo: „Earth Call“, Bundesjugendchor: „Pax – Chor in Bewegung“). In den Workshops wurden außerdem neue Formen der Zusammenarbeit zwischen der komponierenden Person und dem Chor (Kers­tin Behnke: Chorkomposition als Ensembleprozess, Christoph Ritter/ Vinzenz Weissenburger: Composing with a Choir) oder ebenfalls der Einbezug des Publikums vorgestellt (Silke Lindenschmidt, Ulf Pankoke, Svenja Wolff). Beeindruckend waren auch Präsentationen von außergewöhnlichen Projekten, zum Beispiel die etwa achtstündige Nachtaufführung von John Taveners „The Veil of the Temple“ am 6./7. April 2024 mit Publikum in Dortmund, die beim Deutschen Chorfest im kommenden Jahr in Nürnberg wiederholt werden soll. Bei all diesen innovativen Projekten wurde eines deutlich: Partizipation und kollaboratives Arbeiten muss erlernt und geübt werden. Es braucht Zeit, damit sich Chöre, Publikum und Komponierende aufeinander einlassen können und wollen.

Schwerpunkt Komponistinnen

Schließlich fiel auch noch ein weiterer Aspekt ins Auge: Komponistinnen. Erstmals gab es sieben Veranstaltungen zum Thema Chormusik von Frauen – ein absolutes Novum. Interessanterweise waren genau diese Veranstaltungen besonders divers in Bezug auf Alter, Nationalität und Repertoire. Hier ließ sich bereits das Motto des Deutschen Chorfestes in Nürnberg erahnen, das im kommenden Jahr vom 29. Mai bis 1. Juni 2025 „Stimmen der Vielfalt“ lautet. Auffällig war hier besonders, dass an diesen Veranstaltungen entweder Aktive aus dem Archiv Frau und Musik Frankfurt am Main oder aus dem Chorfest-Vorbereitungsteam des Fränkischen Sängerbundes beteiligt waren oder es sich um ausländische Verlage handelte, die oft schon wesentlich mehr Musik von Frauen in ihrem Portfolio anbieten. Weitere Workshops befassten sich unter anderem mit den Themenbereichen Musikvermittlung für (Klein-)Kinder und Jugendliche, ein weiterer Schwerpunkt der chor.com, Musik für Senioren, Repertoire aus anderen Ländern, Kooperationen zwischen Verbänden, Hochschulen, professionellen und Laienchören, Arrangieren oder auch Body Percussion und Stimmbildung.

Ein weiteres Augenmerk wurde außerdem auf die jüdische Musikkultur gelegt. Neben der Vorstellung von einzelnen Persönlichkeiten der jüdischen Musikkultur (Assaf Levitin, Thomas Schinköth: Samuel Lampel) oder von Chorsammlungen mit jüdischen Stücken in Workshops und Reading Sessions (Ohad Stolarz: Jüdische Chormusik) zählte insbesondere die Eröffnung des neuen, internationalen Arrangement-Wettbewerbs zum „Deutsch-Jüdischen Liederbuch von 1912“ zu den Höhepunkten der chor.com. Der europaweit erste internationale Arrangement-Wettbewerb für musikalische Erinnerungskultur, der vom DCV zusammen mit dem deutsch-israelischen Forschungsvorhaben „Projekt 2025 – Arche Musica“ und Schott Music ausgelobt wird, richtet sich an israelische und deutsche Staatsbürger*innen sowie in Israel oder Deutschland wohnhafte Komponist*innen, die in Auseinandersetzung mit musikalischer Erinnerungskultur zwei neue Arrangements von je einem Titel aus dem hebräisch- und dem deutschsprachigen Teil des Liederbuchs erstellen. Die Jury vergibt Preisgelder von insgesamt 20.000 Euro und die ausgezeichneten Kompositionen werden bei Schott Music verlegt.

Mit dem Motto „Auf- und Umbrüche – neue Perspektiven für die Chormusik“ gelang es der chor.com, neue Impulse zu setzen, innovative Projekte vorzustellen und ein großes Fachpublikum anzuziehen, auch wenn die Besucherzahlen noch nicht die Zahlen aus den Jahren vor Corona erreichten. Auffällig war außerdem, dass das Konzertangebot weiter reduziert worden ist. Dennoch ging das Gesamtkonzept auf, da die chor.com es schaffte, mit ihrem Angebot aus Masterclasses und Workshops und ihrer Mischung aus Konzerten klassischer Ensembles und Vocal Bands insbesondere auch junge Menschen anzuziehen. Ein Trend, der sich auch insgesamt bei den Mitgliedszahlen des Deutschen Chorverbands widerspiegelt, denn hier ist ein Wachstum im Bereich Kinder- und Jugendchor zu verzeichnen. 

  • Die nächste chor.com ist vom 1. bis zum 4. Oktober 2026 geplant. 
  • www.chor.com

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