In der Pandemie-Zeit haben viele Chöre aufgegeben. Doch nun könnte eine Trendwende in Sicht sein. Vor allem in den Städten boomen Chöre mit besonderen Konzepten.
Nürnberg/Essen - Dehnen, einsingen - überall im Raum haben sich die Frauen verteilt, um sich für die Chorprobe des Nürnberger Frauenchors Desirenen aufzuwärmen. Vorne steht Chorleiterin Agathe Labus und gibt die Töne auf ihrem Keyboard vor. Bald ist der gesamte Raum erfüllt von mehrstimmigem Gesang. Nach der Probe sei sie immer euphorisch, erzählt Chormitglied Anna Geck.
Der Chor mit aktuell 50 Sängerinnen ist beliebt - es gibt sogar eine Warteliste für Neueintritte. Nicht anders sieht beim Essener A-Capella-Chor «UnCHORekt» aus. «Praktisch jede Woche rufen Menschen hier an und wollen mitsingen», sagt Chorleiter Christoph Weßkamp. «Ich kann aber im Moment niemanden aufnehmen, wir sind 35 und wollen nicht größer werden.»
Chorgesang wird nach den scharfen und teils existenzgefährdenden Einschnitten der Coronazeit wieder attraktiver. «Es geht aufwärts, die Zahl der Chöre wächst», sagt der Generalsekretär des NRW-Landesmusikrates, Robert von Zahn. Daran hätten auch weltweite Pop-Stars wie Taylor Swift oder Adele durchaus ihren Anteil. «Sie sind Rollen-Vorbilder in ihrer Kleidung, Lebensweise - und das Singen zählt dazu», sagt er. Der Trend werde auch von Casting-Shows im Fernsehen gestützt.
Chöre haben schwere Zeiten hinter sich
Allerdings haben die etwa 50.000 Chöre in Deutschland auch schwere Zeiten hinter sich. Jahrelang registrierte der Deutsche Chorverband Rückgänge. Der Grund dafür: veränderte Lebensbedingungen, ein anderes Freizeitverhalten und der demografische Wandel - eine Entwicklung, die zum Beispiel auch Sportvereine, die Freiwillige Feuerwehr, aber auch Gewerkschaften und Parteien zu spüren bekommen. «Diese Entwicklung wurde durch die Pandemie beschleunigt», sagt die Geschäftsführerin des Deutschen Chorverbandes, Veronika Petzold.
In Bayern sind fast 20 Prozent der Sängerinnen und Sänger nach Einschätzung des Bayerischen Sängerbundes im Zuge von Corona verloren gegangen. In NRW war das Wegbrechen des Nachwuchses durch die Jahre ohne Proben besonders schlimm, sagt von Zahn. «Das war ein fatales Generationenloch, an dem man auch zugrunde gehen kann.»
Verantwortliche sehen Trendwende
Nun sehen die Verantwortlichen eine Trendwende. «Wir haben inzwischen so viel Chöre neu dazubekommen, dass wir das Corona-Loch voll ausgeglichen haben», sagt der Präsident des bayerischen Sängerbundes, Alexander Seebacher. In NRW gehe nur die Zahl der reinen Männerchöre weiter zurück, alle anderen Chorgattungen einschließlich der Kinder- und Jugendchöre wüchsen, erklärt eine Sprecherin des dortigen Landesmusikrates. Gesungen werde vielfach Pop-Repertoire der vergangenen 20 Jahre in mehrstimmigem Satz.
Nach der Pandemie mit ihren Kontaktverboten sei offensichtlich vielen Sängerinnen und Sängern klar geworden, wie wertvoll das Singen in der Gemeinschaft sei, sagt Chorverbands-Geschäftsführerin Petzold. Das zeige sich auch in den steigenden Mitgliederzahlen. «Vielleicht haben wir die Talsohle so langsam erreicht.»
Chor steht und fällt mit der Leitung
Viel hängt dabei von der Chorleitung ab, wie auch die Nürnberger Chorsängerin Anna Geck bestätigt. Sie sei während der Pandemie zum Chor gestoßen, weil sie sich nach einem Hobby gesehnt habe. Chorleiterin Labus habe dann in der Zeit des Probenverbotes alle motiviert, «das online durchzuziehen.» Später hätten sie sich draußen getroffen, um mit einem Meter Abstand unter einer Brücke zu proben.
Doch auch bei den Chorleiterinnen und Chorleitern hat die Pandemie eine Lücke hinterlassen. Das seien oft freie Künstlerinnen und Künstler, erläutert Petzold. Während der Pandemie hätten sich viele nach neuen Jobs umgeschaut und fehlten nun.
Viele Chorleiterstellen unbesetzt
Im bevölkerungsreichsten Bundesland NRW ist nach Auskunft des Landesmusikrates aktuell etwa jede zehnte Chorleiterstelle unbesetzt. Trotz Zuschüssen von mehr als 50 Prozent für die Lehrgangskosten von Amateurchorleitern ließen sich zu wenige Musiker ausbilden, sagt von Zahn.
Fast zwei Drittel der Mitarbeiter im Musikleben hätten «hybride Beschäftigungsverhältnisse», das heißt, sie bräuchten einen Zweitjob, um über die Runden zu kommen. «Da fehlt einfach die Zeit für einen langwierigen Chorleiter-Lehrgang.»
Wachstum vor allem in Städten
In den Städten ist die Chorlandschaft gewachsen. Sie habe sich «ausdifferenziert in einem erstaunlichen Maße», findet etwa der Präsident des fränkischen Sängerbundes, Friedhelm Brusniak - vom Hochschul- oder Jazzchor über den Barbershop-Gesang bis zum Heavy Metal-Chor ist alles vertreten.
Auf dem Land sehe es allerdings zum Teil noch anders aus, sagt Seebacher. Dort existiere vielfach nur ein Chor und wenn dessen Altersstruktur oder die musikalische Ausrichtung nicht passten, finde man kaum neue Mitglieder.
Trend zum Pop
Beim Repertoire liegt der Trend ganz klar bei populärer Musik. «Das, was in den Medien läuft, ist natürlich auch hoch präsent in den Chören», sagt Petzold. Rock, Pop, Jazz - das habe Zulauf ohne Ende, sagt auch Seebacher. Zum Repertoire des Desirenen-Chors gehören zum Beispiel Adele, Oasis, Eurythmics oder Fugees. Ein Erfolgsstück des Essener Chors ist Herbert Grönemeyers «Flugzeuge im Bauch».
Und die Chor-Gemeinschaft endet auch nicht mit der letzten Note. «Wir verstehen uns alle total gut», sagt Iris Thumann vom Nürnberger Frauenchor. Jede Probe ende deshalb mit einem Stammtisch.