Die Chöre, die zum Internationalen Kammerchor-Wettbewerb vom 22. bis 27. Mai ins Allgäu nach Marktoberdorf reisten, zählen zu den bes-ten Amateurchören der Welt. Dementsprechend groß war die Erwartung, hier Chöre aus Kuba, Indonesien, Südkorea, den USA, Estland, Lettland, der Schweiz, Ungarn, der Ukraine, Russland und Deutschland zu hören. Da stellten sich spannende Fragen: Lassen sich nationale Unterschiede ausmachen? Wie hoch ist der musikalische Anspruch insgesamt in dieser Liga? Worin liegen die kleinen, aber feinen Unterschiede zwischen den Spitzenchören, die dann die international besetzte siebenköpfige Jury dazu bewegte, den einen Chor höher als den anderen Chor einzustufen? Mit welchem Repertoire versuchen sich die Chöre hier zu profilieren?
Um einen differenzierten musikalischen Eindruck zu bekommen, gibt es in Marktoberdorf gleich zwei Wettbewerbsrunden. In der ersten Runde müssen die Chöre ihre sängerische Souveränität mit Werken aus verschiedenen Epochen unter Beweis stellen. So muss in einem circa 25-minütigen Programm mindestens ein Stück jeweils aus der Renaissance oder des Frühbarock dabei sein, das 19. oder 20. Jahrhundert soll vertreten sein sowie mindestens ein Werk, das nach 1950 komponiert worden ist. Hinzu kommt das Pflichtstück: In diesem Jahr handelte es sich bei den gemischten Chören um „Ergebung“ aus den „Sechs geistlichen Gesängen“ von Hugo Wolf. Für das Pflichtstück in der Kategorie Frauenchöre schrieb der renommierte Chorkomponist Wolfram Buchenberg ein neues Stück.
In der 2. Runde konnten die Chöre dann ein etwa 10-minütiges Programm komplett selbst gestalten. Viele Chöre sangen nun Literatur aus ihrer jeweiligen Heimat, denn hier konnten sie, was Stilsicherheit angeht, am besten Punkten. Und tatsächlich klangen die vom „University of Oregon Chamber Choir“ gebotenen Spirituals absolut authentisch. Die Chöre aus Kuba („Carolina“) und Indonesien („Batavia Madrigal Singers“) präsentierten in dieser Runde viel Folklore. Die Phrasierung von melodischen Linien, der souveräne Umgang mit rhythmischen Akzentuierungen und die Erzeugung eines typischen vokalen Klangbildes, all das gelang wunderbar überzeugend und versetzte auch das Publikum in groovige Stimmung.
Chöre können natürlich auch ihre hohe Professionalität mit einem Repertoire unter Beweis stellen, das ihnen überdurchschnittlich viel abverlangt. So präsentierte der „Gracias Choir“ aus Südkorea zum Beispiel den Hymnus „Gesegnet seist du, O Herr“ aus der Vespermesse op. 37 von Sergei Rachmaninoff. Der Chor sang in perfekt russischer Diktion und zugleich mit einer Inbrunst und Ausdruckskraft, dass man sich unweigerlich in einen russisch-orthodoxen Gottesdienst versetzt fühlte, der in einem Kloster irgendwo in der sibirischen Taiga stattfindet. „Das ist die Qualität, die diesen südkoreanischen Chor auszeichnet“, schwärmte der Juryvorsitzende Georg Grün, „ich habe selten einen so russischen Rachmaninoff gehört. Wenn der Chor hinterm Vorhang gesessen hätte, hätte ich wahrscheinlich die Wette verloren, was für ein Chor das sein könnte.“
Aber auch das weitere Programm dieses Chores war beeindruckend. So gelangen die polyphonen Girlanden in dem Stück „Io mi son giovinetta“ – „Ich bin jung und lache“ aus dem 4. Madrigalbuch von Claudio Monteverdi mit erfrischender Lebendigkeit. Sehr kontemplativ wiederum wurde es in Arvo Pärts „Which was the son of“, einem Stück, in der die Auflistung sämtlicher Vorfahren von Jesus Christus, wie sie das Lukas-Evangelium überliefert, vertont ist. Das Pflichtstück „Ergebung“ wiederum wurde mit ausladendem Pathos vorgetragen und schließlich bekam man noch eine „Vater unser“-Vertonung des russischen Komponisten Dmitri Smirnow zu hören, einem Stück in dem viele vokale Ausdrucksformen ausgelotet werden.
Dass der „Gracias Chor“, der mit dieser Gesamtleistung den 1. Preis erhielt, zugleich ein Programm mit viel geistlicher Musik bot, entspricht durchaus dem Selbstverständnis des Ensembles. Die Sängerinnen und Sänger sind bekennende Christen, mit ihrer Musik wollen sie, nach eigener Aussage, die Freude über ihren Glauben kundtun. Den hohen sängerischen Standard dieses Chores führte Georg Grün auf einen enormen Leistungswillen zurück, der gerade in der südkoreanischen Gesellschaft von großer Bedeutung sei.
Einen anderen Eindruck, aber vom sängerischen Niveau dem „Gracias Choir“ durchaus ebenbürtig, vermittelte der zweitplatzierte Chor, der „University of Oregon Chamber Choir“. Der Chor probt mehrmals die Woche, wobei die meisten Mitglieder Musik studieren. Dabei erarbeitet man sich ein umfassendes Repertoire aus vielen Epochen und Genres, wobei alles – wie generell bei vielen der hier agierenden Chöre – auswendig vorgetragen wird. Und in der Tat konnte man feststellen, dass die Ensembles allein dadurch eine vergleichbar größere musikalische Souveränität erlangten.
Die jungen Sängerinnen und Sänger aus Oregon standen in ihren Konzerten meistens in einem U-förmigen Halbkreis, in dessen Zentrum die Chorleiterin Sharon Paul mit unprätentiösen aber präzisen Bewegungen ihr völlig natürlich agierendes Ensemble leitete. Es waren nicht nur die dargebotenen Spirituals, die in perfekter Abstimmung Publikum und Juroren begeisterten. Der Chor erzielte auch den Sonderpreis für die beste Interpretation des Pflichtstückes „Ergebung“ von Hugo Wolf; einem klangstarken Stück, das mit einer Wagner-ähnlichen Harmonik an die Grenzen der Tonalität geht. Ein wenig erstaunlich war es, dass ausgerechnet ein Chor aus den USA die Jury mit einem romantischen deutschen Chorstück mehr überzeugen konnte als die beiden in dieser Kategorie aufgetretenen deutschen Chöre „ClaritasVocalis“ aus Frankfurt und der Kammerchor „I Vocalisti“ aus Lübeck. Der Leiter von „I Vocalisti“, Hans-Joachim Lustig, hatte sich vielleicht ein wenig mehr erhofft, holte man doch schon 2003 in Marktoberdorf einen 2. Preis. Lustig sieht seinen Chor allerdings in gleichbleibender Qualität. Nach seiner Meinung ist vor allem das Niveau der hier antretenden Chöre insgesamt gestiegen. Und auch „ClaritasVocalis“, die sich im vergangen Jahr noch beim Deutschen Chorwettbewerb über einen 1. Preis freuten, erhielt hier keinen Preis. Dennoch wurden beiden Chören – wie auch dem teilnehmenden deutschen „4x4 Frauenchor der Pädagogischen Hochschule Heidelberg“ – ein „sehr gut im internationalen Vergleich“ bescheinigt.
Diesmal gab es zudem gleich drei 3. Preise, die an äußerst unterschiedliche Chöre gingen: An die mit viel Folklore agierenden „Batavia Madrigal Singers“ aus Jakarta, den in der europäischen und amerikanischen Klassik beheimateten „Ghostlight Chorus“ aus New York (dessen angeblicher Niveauvorsprung im Vergleich zu den deutschen Chören nicht unbedingt nachvollziehbar war) und an den bereits bei vielen Wettbewerben ausgezeichneten Chor „Oreya“ aus der Ukraine.
In der Kategorie Frauenchöre hatten die Ensembles eine besondere Herausforderung zu bewältigen. Der Komponist Wolfram Buchenberg schrieb mit dem Stück „Luz y Paz“ für den Wettbewerb ein neues Stück, das in Marktoberdorf in fünf verschiedenen Interpretationen seine Uraufführung erlebte. Das achtstimmige Werk beinhaltet komplexe und bitonale Harmonien, schwierige dynamische Verläufe, wechselnde musikalische Stimmungen und teilweise extreme Stimmlagen. Dennoch hat alles eine sehr schöne und chorklangsinnliche Anmutung. Der Frauenchor „Balta“ aus Lettland durfte sich hier mit seiner Buchenberg-Präsentation über den „Sonderpreis für die beste Interpretation einer Uraufführung“ freuen. Außerdem bekam der Chor auch in der Gesamtwertung den 1. Preis zugesprochen. Einen 3. Preis erhielt der akademische Chor der Universität Tartu aus Estland, wodurch das hohe Niveau baltischer Chöre einmal mehr unter Beweis gestellt wurde. Den 2. Preis schließlich erhielt der Frauenchor der Akademie Mykolaiv aus der Ukraine, der zudem den „Sonderpreis für den authentischsten Klang“ für das Stück „Black Square“ von Viktor Muzhchil bekam. Dieser Chor steht auch stellvertretend für eine weitere wichtige Entwicklung der auf diesem Niveau agierenden Chöre: Performance-Elemente oder kleinere szenische Umsetzungen werden in die Präsentation mit eingebaut. So hielten während der Aufführung des Muzhchil-Stückes die Sängerinnen immer wieder scherenschnittartige Blumenbilder in die Luft, die im Gesamtgefüge neue überraschende Bildimpressionen hervorzauberten.
Der Wettbewerb ist aber nur ein Teil des Marktoberdorfer Festivals. In den vielen Begegnungskonzerten, die in der ganzen Umgebung stattfanden, sangen immer drei Chöre aus unterschiedlichen Ländern zusammen. So bekamen die 500 Sängerinnen und Sänger viele Möglichkeiten, gemeinsam zu konzertieren, sich auszutauschen und voneinander zu lernen. Und auch die ausgelassenen Feste, die bis weit in die Nacht im großen Bierzelt gefeiert wurden, sorgten dafür, dass Kontakte geknüpft und viele Freundschaften geschlossen wurden. Auf diese Weise war das Motto des 14. Internationalen Kammerchorwettbewerbs „Friede“ tatsächlich mehr als nur eine Floskel. Frieden, so die Botschaft, gelingt nur, wenn die Menschen einander begegnen. Am besten indem sie gemeinsam singen.