Nun wäre unsere Welt nicht automatisch besser, wenn sie wie ein Chor oder Orchester wäre, und doch kann es in der Musik gelingen, dass alle aufeinander hören, miteinander ein gemeinschaftliches Ziel verfolgen und sich dabei nicht von einem Instruktor regieren, sondern von einem Motivator begeistern und inspirieren zu lassen.
Das Singen mit Dirigiergesten zu unterstützen, hat eine lange Tradition. Und so sei hier zuerst einmal auf die innovative Dirigier-App hingewiesen, die das hier vorliegende Handbuch nicht nur ergänzt, sondern uns zunächst einmal den großen Adressaten-Kreis vor Augen führt, an den dieses Publikationspaket sich insgesamt wendet. Bereits Friedrich Wilhelm Marpurg tritt 1763 dafür ein, die Grundlagen der Schlagtechnik im Musikunterricht zu vermitteln und während der Singübungen einzeln oder in der Gruppe den Takt zu schlagen: „Damit die Schüler sich desto besser in den Tact finden lernen, so muß man sie selber zum Tactieren führen, und bald diesen, bald jenen, bald alle zusammen, zu ihren Aufgaben den Tact mit der Hand geben zu lassen.“ Jeder Mitwirkende im Chor wird hier zu einem Conductors’s Coach und gerade die einführenden Tools der App lassen sich sowohl im Klassenunterricht als auch im Anfängerbereich in Chorproben einsetzen. Die Übergänge zwischen Singen, Gestalten und Anleiten sind ohnehin fließend, früh gilt es, in diese Rolle des Gestaltens hineinzuwachsen. „Der Musikunterricht gehört den Schülern“, so betitelte einst Christoph Richter seinen Aufruf, Lernende zu den Gestaltern und Arrangeuren ihres eigenen Musikunterrichts zu machen. Solch eine Dirigier-App kann hier den Anfang machen. Längst setzen auch innovative pädagogische Ansätze des Deeper Learnings auf solch eigenständige Formen der Wissensaneignung. So kann das, was im Klassenunterricht sichtbar wird, dazu führen, die eigene Lebenswelt mitzugestalten: Sie kann dazu beitragen, junge Menschen für die Musikmentoren-Ausbildung zu interessieren, die mittlerweile in den meisten Bundesländern angeboten wird. Auch die Amateurmusik lebt geradezu davon, dass junge Menschen fließend in solche Leitungsfunktionen hineinwachsen. Dafür gilt es, sich durch ein Selbststudium inspirieren zu lassen, das hier ermöglicht werden kann. Auch der von der Jeunesses Musicales Deutschland verantwortete Jugendorchesterpreis würdigt Kreativität und fordert die aktive Mitwirkung der Jugendlichen geradezu ein. Und wer sich dann in einem Lehramts- oder Kirchenmusikstudium befindet, wird dankbar sein für solch eine Dirigier-App, die den Dirigierunterricht in der Gruppe wirksam unterstützen kann.
Dass Dirigieren, Proben und Singen zusammengehören und es hier eines zusammenhängenden Professionalisierungswissens bedarf, das gemeinsam gedacht werden muss, gleichzeitig aber auch eine Verschlankung für niederschwellige Zugänge nötig ist, wird in den zwei sich ergänzenden Teilbänden vorbildlich umgesetzt. Der ergänzende Praxisband gibt hier wertvolle Anregungen und unterstützt die Lernenden in ihrem eigenverantwortlichen Tun. Das auf dem Klappentext mitgelieferte Versprechen wird ohne Einschränkungen eingelöst: „Ein Must-have für Lehrende und Lernende.“
Nun reden wir zwar schon mehrere Generationen davon, dass die Zeit der großen Pulttyrannen vorbei sei, ein Paradigmenwechsel hin zu mehr Partizipation und Demokratisierung scheint in vielen Schriften durch, auch im Profibereich ist hier an vielen Stellen solch ein Umdenken spürbar. Dies wird deutlich, wenn in dem hier vorliegenden Handbuch „Dirigieren, Proben, Singen“ als „entscheidende Erfolgsfaktoren für eine überzeugende Chorarbeit“ ausgemacht werden, Anregungen zu „Proben in kleinen Gruppen ohne künstlerische Leitung“ (S. 156) zu geben, die musikalische Eigenverantwortlichkeit stärken, zu geben und wenn allgemein Möglichkeiten aufgezeigt werden, Aufgaben zu delegieren, die Eigenverantwortung der Chormitglieder zu stärken (S. 299). Wer also seine Thesaurus-Suche mit dem Eintrag „Dirigieren“ aktiviert, erfährt mit diesem Handbuch, dass man mit den hier vorgeschlagenen Synonymen „leiten, führen, regeln, lenken, lotsen, überwachen, beaufsichtigen, steuern, diktieren, verwalten, an der Spitze stehen, fordern, verfügen, bestimmen, vorschreiben, anweisen“ nicht allein zum gewünschten Ziel kommt. Gelingende Chorarbeit erfordert eben andere Skills, will sie dazu beitragen, unser Leben durch Musik glücklich und sinnerfüllt zu gestalten. Auch wenn solch ein Weg hier nur angedeutet werden kann und auch an den angedeuteten Beweglichkeiten in der Chorarbeit sicher noch gearbeitet werden muss, darf man vielleicht doch so visionär denken und hoffen, dass die hier durchscheinenden Aufrufe zu mehr Partizipation in alle gesellschaftlichen Bereiche eindringen und dort auch erhört werden mögen. Es gilt also, mit Johann Gottfried Walthers Lexikoneintrag zu brechen und gemeinsam dafür einzutreten, dass die Gewaltenteilung auch in der Chorarbeit in Anschlag gebracht werden möge.