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Nach über zwei Jahren pandemiebedingter Pause meldete sich die Chorszene auf dem Leipziger Chorfest fulminant zurück. Unser Bild zeigt die Zucchini Sistaz. Foto: Rüdiger Schestag
Nach über zwei Jahren pandemiebedingter Pause meldete sich die Chorszene auf dem Leipziger Chorfest fulminant zurück. Unser Bild zeigt die Zucchini Sistaz. Foto: Rüdiger Schestag
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„Stimme berührt in jeder Form“

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Mit dem Deutschen Chorfest 2022 in Leipzig setzte die Vokalszene fulminant zum Neustart an
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Singende, summende, beatboxende und im Takt der Musik gemeinsam groovende Menschen sah und hörte man am Himmelfahrtswochenende an allen Ecken und Enden Leipzigs. Mehrstimmige Melodien schwebten durch die Luft, die Stadt war wie verzaubert, erfüllt vom Puls von mehr als 350 Chö­ren und Ensembles und von fast 10.000 Sängerinnen und Sängern, die sich zum Deutschen Chorfest 2022 in Leipzig zusammenfanden.

Es ist eine wunderbare Atmosphäre. Überall erklingt Musik. Es erfüllt sehr das Herz und man ist richtig berauscht. Und nach zwei Jahren Pandemie einfach eine Wohltat sowas erleben zu dürfen“, schwärmt Elke Haas, Chorfestbesucherin und Sängerin des Kammerchors Ettlingen, der zum Chorfest zwei Tageskonzerte darbot. Das Deutsche Chorfest konnte dieses Jahr endlich wieder seine Magie entfalten. Und von dieser Magie hatte es reichlich: Lief man an diesem Wochenende durch die Stadt, sah man Menschentrauben in gleichen Chor-T-Shirts und hörte in den Straßen, Trams oder in Leipzigs Passagen spontane Gesänge. Man lief sich über den Weg, erkannte sich am nicht zu übersehenden türkisfarbenen Chorfest-Bändchen, unterhielt sich, verlor sich aus den Augen, um sich dann bei einem der Konzerte wieder zu treffen.

Denn mit mehr als 500 Konzerten, die an über 20 Veranstaltungsorten in ganz Leipzig zu hören waren, hatte das Chorfest reichlich Programm zu bieten. Ob in bekannten Leipziger Kulturstätten wie dem Gewandhaus, unter freiem Himmel im Park oder im Herzen der Stadt am Marktplatz, in Kirchen, Konzertsälen oder sozialen Einrichtungen – überall erklang eine bemerkenswerte musikalische Vielfalt von klassischer oder zeitgenössischer Chormusik über Jazz, Rock oder Pop, bis hin zu Musical, Gospel und Folklore. Für das Publikum gab es zahlreiche Mitsingaktionen. Chöre und Ensembles konnten sich beim Wettbewerb in elf Kategorien messen.

Hin und her gerissen zwischen Veranstaltungen musste das Publikum eine Auswahl treffen: Wettbewerb oder Konzert? Klassik oder Pop? MDR-Rundfunkchor oder Anders? Accent oder Quintense? Die Chorfestbesucherinnen und -besucher hatten dafür unterschiedliche Vorgehensweisen: Tagsüber Klassik, abends Jazz und Pop, erklärte Elke Haas, denn abends brauche man „noch ein bisschen was Rhythmisches“. Andere stürzten sich lieber einfach ins Getümmel und sammelten so viele musikalische Eindrücke wie möglich: „Wir sind seit heute früh ohne Pause unterwegs. Vormittags waren wir in Tageskonzerten und seit 14  Uhr sind wir bei den Wettbewerben“, so Chorfestbesucherin Bettina Oberländer. Beruhigen konnte man sich zumindest damit, dass es an diesem Wochenende quasi unmöglich war, eine falsche Wahl zu treffen: „Die singen alle toll, von Kinderchor bis Vokalensemble. Es ist ein Traum zuzuhören.“

Wiederaufblühen der Chorszene

Nachdem das Chorfest 2020 aufgrund der Corona-Pandemie kurzfris­tig abgesagt werden musste und die Chorszene zwei Jahre lang still gestanden hatte, leitete das Chorfest 2022 in Leipzig ihr Wiederaufblühen ein. Es solle ein „Signal des Aufbruchs, des Neustarts und der Zuversicht in die gesamte Chorszene senden“, so Kulturstaatsministerin Claudia Roth. Auch Juliane Berg, Jury-Vorsitzende der Kategorien Kinder- und Jugendchor, sieht im Chorfest eine Unterstützung für die Chorszene: „Das hat eine Signalwirkung zu sehen ‚Ich bin nicht alleine‘. So viele versuchen nach der Pandemie wieder auf die Beine zu kommen und da unterstützt das Chorfest, weil hier ja jeder von den 350 Chören eine Chance für einen Auftritt bekommt. Egal, wo er herkommt, egal, wie gut er ist.“

Eine leichte Zeit waren die letzten zwei Jahre für die Chorszene nämlich nicht. Denn sie lebt gerade von dem, was in Pandemie-Zeiten pausieren musste: von vielen singenden Menschen auf engem Raum, von Konzerten und Zusammenkünften. Die zweijährige Probenpause für Chöre und Ensembles habe sich bei der Anzahl der Anmeldungen bemerkbar gemacht, so Jury-Vorsitzende Juliane Berg. Nach Corona habe es nur halb so viele Anmeldungen gegeben wie noch 2020. Umso mehr lobt sie die Chöre, die zum Wettbewerb angetreten sind: „Sobald sie konnten, sind sie zum Proben rausgegangen oder haben sich online getroffen. Also jeder hat auf die eine oder andere Art und Weise versucht, dabei zu bleiben. Und das ist natürlich toll, dass sie mutig waren, sich zum Wettbewerb anzumelden und das noch in Corona-Zeiten, nicht wissend, ob sie genügend proben können, um hier mitzumachen.“

Für den Kammerchor des Musikgymnasiums Graz zum Beispiel, der in der Kategorie Jugendchöre 1 am Wettbewerb teilnahm, sei die Vorbereitung eine Herausforderung gewesen. Erst am Tag der Abfahrt zum Chorfest habe er in Originalbesetzung proben können. „Anspannung und Nervosität waren groß. Aber wir hatten ein wohlgesonnenes Publikum und haben unseren Auftritt gut gemeistert“, erzählt Chorleiter Thomas Perstling-Edlmair zufrieden. Und tatsächlich war die Atmosphäre beim Wettbewerb eine wohlgesonnene. Die Chöre wurden von vollen Konzertsälen mit begeisterten Besucherinnen und Besuchern empfangen. 

Nachwuchs im Wettbewerb

Blaue und lilafarbene Lichtreflexe tanzen auf der mit Stuck verzierten, weißen Wand hinter der mehrstufige Bühne und der festliche Große Saal der Kongresshalle am Zoo ist dicht besetzt mit murmelndem Publikum. Nachdem die Jury-Vorsitzende Juliane Berg die Bühne betritt, wird es schlagartig still. Sie begrüßt die Besucherinnen und Besucher zur Wettbewerbskategorie „Jugendchöre 1“, in der sich drei Chöre der Bewertung stellen.

Hinter der Bühne, ein Stockwerk tiefer, befindet sich ein großer Backstage-Raum mit langen, weißen Tischen, an denen jeweils etwa fünfzehn Menschen Platz finden können. Dort bereiten sich die Chöre auf ihren Auftritt vor. Manche entspannen sich mit meditativen Bewegungen, andere finden sich im Kreis zusammen, um sich gegenseitig Mut zuzusprechen oder ihre Stücke anzusingen, bevor sie die Treppe zum Großen Saal hochlaufen, noch einmal durchatmen und durch die großen Türen den Saal betreten. Von Applaus begleitet, steigen sie die Stufen zur Bühne hinauf und finden ihre Aufstellung. Jetzt heißt es Konzentration.

Vom ersten Akkord an, den der Jugend-Konzertchor der Chorakademie Dortmund anstimmt, ist klar: Das wird ein berührender Auftritt. Die jungen Sängerinnen und Sänger im Alter von 13 bis 19 Jahren bewältigen hervorragend ein anspruchsvolles Programm und überzeugen mit ihrem homogenen Glockenklang, mit ausdrucksstarker Dynamik und Phrasierung und ihrer charismatischen Präsenz. Sie singen „Tröstet, tröstet mein Volk“ von Heinrich Schütz, „Stillae“ von Marten Jansson und „Teenage Dream“ aus der Fernsehserie „Glee“, arrangiert vom Chorleiter Felix Heitmann.

Abwechslungsreiche und ebenfalls anspruchsvolle Stücke präsentiert der Landsberger Jugendchor unter der Leitung von Marianne Lösch. Mit einem schönen, luftigen Klang  singt er unter anderem „No no, Nigella“ von Thomas Morley, Ola Gjeilos „Northern Lights“ und eine Bearbeitung des Volksliedes „Der Mond ist aufgegangen“ arrangiert von Thaddäus Dorsch und meistert dabei schwierige Harmonien und Rhythmen.

Ein paar holprige Stellen und ein etwas gedeckelter Stimmklang zügeln nicht die Leidenschaft, mit der der Kammerchor des Musikgymnasiums Graz ein schönes Programm vorträgt. Es besteht aus Stücken wie „The Tyger“ von Franz M. Herzog, „Wer bis an das Ende beharrt“ aus Elias op. 70 von Felix Mendelssohn Bartholdy oder einem Arrangement des Volksliedes „Sieben Berg und sieben Tal“ von Martin Stampfl.

Mit einer Stimmgabel, einem Stift und der Partitur bewaffnet, verfolgt die Jury aufmerksam die Auftritte. Mal nickend, mal mit geschlossenen Augen oder einem Lächeln reagiert sie auf die breite musikalische Palette, die die Jugendchöre präsentieren. „Man sieht an dem Wettbewerb, wie vielseitig Jugendchöre klingen“, so Jury-Vorsitzende Juliane Berg. „Nicht immer wird alles bewältigt, was gesungen wird, aber trotzdem finde ich es toll, dass die Chöre sagen ‚Machen wir jetzt mal achtstimmig statt vierstimmig‘. Das sollte man auf jeden Fall unterstützen.“ Mit dem Dritten Preis an den Kammerchor des Musikgymnasiums Graz, dem Zweiten Preis an den Landsberger Jugendchor und dem Ersten Preis an den Jugend-Konzertchor der Chorakademie Dortmund würdigt die Jury die Leistung der Jugendchöre. „Man kann sagen, die Tendenz geht zu sehr vielseitigen Programmen, die immer mehr divergieren“, erklärt Juliane Berg. Das werde auch dadurch angeregt, dass das Chorfest Sonderpreise vergibt, wie den Sonderpreis für die „Beste Uraufführung eines Volkslied-Satzes“. „Und da kommen ganz witzige Sachen zusammen, so etwas ist immer inspirierend.“

Das Chorfest machte die Vielfalt der Chor- und A-cappella-Szene erlebbar. Auf den Bühnen standen unterschiedliche Generationen und alle denkbaren Besetzungen: Kinder- und Jugend-, aber auch Erwachsenenchöre, darunter gemischte, Frauenchöre, Männergesangsvereine oder Vocal Bands. Unter ihnen sowohl Chormusikliebhaberinnen und -liebhaber, als auch Profimusikerinnen und -musiker. Eine Vielfalt mit großem Potential: Sie machte das Chorfest zu einem Ort der Begegnung und des kreativen Austauschs.

Davon ist auch Jury-Vorsitzende der Kategorie Kinder- und Jugendchöre Juliane Berg überzeugt. „Also ich glaube, hier geht keiner nach Hause und sagt, das war blöd oder sowas. Das geht gar nicht.“ Lächelnd fügt sie hinzu: „Denn Stimme berührt. Stimme berührt in jeder Form.“

 

 

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