„Bitte rücken Sie zusammen. Wir brauchen jeden Platz!“, bat Moritz Puschke in Nürnbergs Barockkirche St. Egidien inständig. Etwas Besseres kann dem neuen Künstlerischen Leiter eines altehrwürdigen Festivals wie der Orgelwoche natürlich nicht passieren. Die heißt jetzt „Musikfest ION“ und endete in ihrer 68. Auflage nach gut zwei Wochen mit der Bilanz von ausverkauften Kirchen, Sälen und der uneingeschränkten Zustimmung des Publikums.
Dabei hatte der Berliner Kulturmanager aus dem Umfeld von „Radialsystem V“ und mit dem großen Netzwerk eigentlich gar nichts so Ungewöhnliches gemacht. Zum Beispiel in St. Egidien: Mit „Voces8“ schreitet zwar ein festivalwürdiges Vokalensemble mit „Pilgermusik – pilgernde Musik“ a cappella von der Empore bis zur Vierung durch die Kirche. Aber so etwas war ja nicht eben neu, auch nicht der Pilgerwegsgedanke à la Kerkeling. Aber viele junge Leute kamen in Wandersandalen und drängelten sich bei „freier Platzwahl“ wie auf dem Jakobsweg. Von Konzert- oder Musica-Sacra-Hemmschwelle keine Spur.
Puschke hatte sich, so erzählte er anlässlich einer CD-Präsentation, zwei Jahre lang in Nürnberg umgesehen, umgehört und erfüllte, worum sein Vorgänger Folkert Uhde aus dem gleichen Berliner Musik-Stall elaboriert einen Bogen gemacht und was das Publikum lange vermisst hatte: Unter dem weit ausgestaltbaren Festivaltitel „Spuren“ gab es jetzt, unvermischt, unzertanzt, wieder das große Oratorium: „Elias“ unter Frieder Bernius mit dem Stuttgarter Kammerchor, auch Bachs Johannes- Passion – allerdings en miniature mit nur einem Sänger, Schlagzeug, Cembalo und Orgel. Aber „mini“ war eher die Ausnahme: Möglichst viele Stimmen sollten die Orgelwoche dominieren. Allein schon zur Musikfest-Eröffnung 250 Grundschüler mit ihrem „SingBach“-Programm, von dem sie heute noch erzählen, oder die fabelhaften Vokalisten des „Dresdner Kammerchors“, die unter Hans-Christoph Rademann ihre Schütz-Interpretation zelebrierten. Oder die ganz vielen Stimmen in einem Projektchor aus den drei großen Nürnberger Laienchören samt Opernchor für eine Aufführung von Benjamin Brittens „War Requiem“ am Ende des Musikfests und in einem für Nürnberg neuen Format: „Festwiesenkonzert“.
Das enthielt ein Orgelvorspiel mit dem letzten Nürnberger Pachelbelpreisträger Martin Sturm, ein Komponistinnengespräch mit Konstantia Gourzi zu ihrer Uraufführung „Perseus & Andromeda“, danach die Britten-Ein- und Aufführung durch die inzwischen in Nürnberg sehr beliebte Generalmusikdirektorin Joana Mallwitz: ein Programm mit Fünf-Stunden-Wagnerdimensionen. Wie dort in der Meistersingerhalle sollten „Stimmen“ Geschichten erzählen: von den „Spuren“ der Menschen in ihrer Epoche. Da brachte die ION zum Beispiel die Sängerstars Anna Prohaska und Nikolaj Borchev mit ihrem Purcell-Programm nach Nürnberg. Das Barockorchester „La Folia“ war dazu mit englischem Barockschwerpunkt besetzt, der Alte Rathaussaal ein stimmiges Ambiente für solch berühmte Nummern wie die zitternde „Frost Scene“ aus „King Arthur“ oder den zeitgemäßen Schlachtruf aus „Bonduca“: „Britons, strike home“, passend zu Brexit und Boris Johnson: „Briten, schlagt zurück!“ Unter den Totenschilden aus dem Bestand des Germanischen Nationalmuseums und in dessen Karthäuserkirche gab es ein beeindruckendes „memento mori“ aus alten Archiven: mit den Bläsern der „Capella de la Torre“ unter Katharina Bäuml, mit den Dürer-Interpretationen des neuen Museumschefs Daniel Hess und den Klangfarben von Schalmei, Pommer, Zink und Landsknechtstrommel. Das war auch eine Fortsetzung der sehr beliebten „Musica Antiqua“-Reihe des GNM.
Das breit angelegte Konzept griff geschickt auf, was immer schon in Nürnberg ankommt, vergaß dabei auch den Windsbacher Knabenchor nicht, der hier zum Inventar gehört. Aber anderthalb Stunden nur A-cappella, wenn auch noch so virtuos, das – so schätzt Puschke realistisch ein – übersteigt inzwischen offenbar die Aufnahmebereitschaft des Nicht-Nur-Spezialisten-Publikums. Deshalb gab es gemäß dem Titel der neuen CD „water & spirit“ in St. Sebald unter Martin Lehmann wunderbare Stücke für den Chor, aber auch attraktiv rieselndes Wasser als percussives Element mit dem virtuosen ARD-Preisträger Simone Rubino.
Bei diesem „Orgelwochen“-Musikfest fehlten die beliebten und vorzüglich besetzten Konzerte in den Altstadtkirchen nicht, abends mit so poetischen Titeln wie „Vom Hören der Zeit“. Auch nicht die repräsentative Orgel-Uraufführung: Sie sollte für das fulminante Instrument in St. Sebald sein, für den dortigen KMD und Reger-Spezialisten Bernhard Buttmann, inspiriert durch Dürers Apokalypse. Philipp Maintz lieferte wie bestellt: 50 Minuten mit Möglichkeiten zu virtuosem Spiel, auch zu verqueren Klangfarben, zu apokalyptischem Stürmen und großem Orgel-Theater. Der selbstbewusste Puschke hatte bei seiner ersten ION keine Angst vor der Konkurrenz der gleichzeitigen Gluck-Festspiele oder des „Fränkischen Sommers“ und ließ auch das von seinem Vorgänger Uhde und dem Berliner Flötenprofessor Jeremias Schwarzer vertretene ION-Lab der Nürnberger Musikhochschule nicht links liegen. Das ist – inzwischen mehrfach preisgekrönt – auf der Suche nach immer neuen Konzertformaten. Das Kartenverkaufs-Plus von 40 Prozent hat es gezeigt: Diese ION hat überzeugt, man freut sich auf die 69. vom 26. Juni bis 5. Juli 2020.