Singen im Chor unter Pandemiebedingungen ist gefährlich, das ist wissenschaftlich erwiesen. So war es innerhalb der letzten anderthalb Jahre leider nur mit vielen Einschränkungen möglich. Inzwischen gibt es zum Glück Impfstoffe, die wirken, und Hygieneregeln, die Chorgesang wieder in größerem Umfang möglich machen. Und so passte es ganz hervorragend, dass Ende September in Hannover die „chor.com“ stattfinden konnte, der wichtigste Branchentreff der Chorszene in Deutschland, eine Mischung aus Musikfestival, Weiterbildung für Chorleiterinnen und Chorleiter und Publikumsmesse, veranstaltet vom Deutschen Chorverband.
Die chor.com ist ’ne riesige Nummer!“, sagt Ruben Michallik, Sänger im Landesjugendchor Nordrhein-Westfalen, „dieses Chorgefühl, endlich wieder auf der Bühne zu stehen, obwohl man noch weit auseinander steht, ist echt ein tolles!“ Mit viel Enthusiasmus hatte sich der Chor 2019 neu formiert, erinnert sich Sängerin Elisabeth Stollenwerk – doch dann kam Corona: „Total traurig. Wir haben die ersten Konzerte miteinander gehabt, und dann sollte es eigentlich so richtig losgehen, auch mit Konzertreisen und so, und klar, man kann da nichts machen!“ Endlich wieder singen, endlich wieder Chormusik live! Die Freude darüber war nicht nur den jungen Mitgliedern des Landesjugendchors NRW, sondern fast allen Besucherinnen und Besuchern der chor.com anzumerken.
Entsprechend formulierte Stephan Doormann, zwei Leitfragen für die Tage in Hannover. „Wie kommen wir aus dieser Enge, aus diesem Eingeschnürtsein wieder heraus? Wie kommen wir wieder in Gang?“ Die Zukunft wird anders sein als vor Corona, davon ist der Künstlerische Leiter der chor.com überzeugt. Es gehe nicht darum, einfach weiterzumachen wie vor der Pandemie, sondern sich auf das, wie er es nennt, „integrative Potenzial“ zu besinnen. Das bestehe darin, in einem Chor auf niederschwellige Weise sehr viele Leute zusammenzubringen. Damit bestehe die Möglichkeit, Kulturgrenzen und religiöse Grenzen zu überwinden, so dass es keine Rolle mehr spielt, wo jemand herkommt, was er ist und wie er ist.
Menschen zusammenbringen setzt aber voraus, dass sie auch bereit dafür sind. Die Pandemie hat gerade im Kinder- und Jugendchorbereich gravierende Lücken geschlagen. Ein ganzer Jahrgang konnte nicht mehr oder nur teilweise erreicht und motiviert werden. Ebenso ist ein starker Aderlass bei der älteren Generation zu spüren. Viele Seniorinnen und Senioren haben sich nach langer Chorabstinenz und Gewöhnung an die häuslichen vier Wände still verabschiedet. So war denn auch die Chorarbeit mit Kindern und Jugendlichen und mit der älteren Generation ein wichtiges Thema der zahlreichen Workshops und Vorträge.
Kai Koch, Professor an der Universität im niedersächsischen Vechta hat vor drei Jahren das „Handbuch Seniorenchorleitung“ veröffentlicht. In Hannover stellte er nun konkrete Möglichkeiten für das gemeinsame Singen junger Menschen und Seniorinnen und Senioren vor. „Weil ich glaube, dass der Generationendialog durch Corona sehr gelitten hat. Ich fürchte, dass die Trennung zwischen Jung und Alt größer geworden ist und dass dieses Loch, das da entstanden ist, geflickt werden muss!“ Der erste Schritt, so Kai Koch, ist es, geeignetes neues Repertoire zu schaffen. Man sollte schauen, was den Zielgruppen inhaltlich und auch konzeptionell entspricht, und auf diesem Hintergrund neue Stücke schreiben beziehungsweise vorhandene passend umschreiben, Ideen sammeln und publizieren. Einige neue Chorsätze speziell für sehr junge und betagtere Chorsängerinnen und Sänger wurden innerhalb des Workshops ausprobiert. In ein bis zwei Jahren, so das Ziel von Kai Koch, wird es ein Chorbuch für „intergeneratives Singen“ geben. Nur ein Beispiel dafür, wie die chor.com in die Amateurmusikszene hineinwirkt. Ganz konkrete Hilfe für die Arbeit mit singenden Laien präsentierte der Bundesmusikverband Chor und Orchester. Auf der Internetseite frag-amu.de finden Chorleiterinnen und Chorleiter Antworten auf alle wichtigen Fragen, zum Beispiel „Wie kann ich ein Hygienekonzept umbauen? Wie kann ich in den Herbst gehen, meine Probenarbeit fortsetzen oder wiederbeginnen?“ Es gibt auf dem Portal eine Sammlung von Praxisbeispielen, die mit Videos verlinkt sind, in denen genau beschrieben wird, welche Methoden eingesetzt werden können, digital, hybrid oder auch präsent. Alles kann kommentiert werden, es können auch neue Praxisbeispiele eingereicht werden.
Ein wichtiger Teil des Programms der chor.com waren Anregungen für Chöre in Sachen Repertoire. Inhaltlicher Schwerpunkt diesmal: Chormusik aus Skandinavien. Sie erfreut sich in den letzten Jahren immer größerer Beliebtheit. Die Komponisten Nordeuropas, so Stephan Doormann, haben weniger Scheu vor schönen Melodien und emotional berührenden Klängen: „Das ist im Grunde für sie kein großer Schritt vom Sprechen zum Singen, anders als bei uns, und das führt zu einem sehr runden Klang, automatisch auf allen Silben und Buchstaben. Gepaart mit dieser Gewohnheit, dass man sich sehr sicher in Gruppen bewegt, dass man auch sehr darauf bedacht ist, in Gruppen als eine Einheit zu erscheinen. Das hilft natürlich auch sehr, diese Homogenität im Klang zu erzeugen.“
Schwedische A-cappella-Chormusik unserer Zeit in exzellenter Qualität präsentierte der Eric-Ericson-Kammerchor aus Stockholm. Dessen Gründer und Namensgeber war der „Chorpapst des zwanzigsten Jahrhunderts“. Geleitet wurde das Ensemble bei seinem Auftritt in der Marktkirche Hannover von Florian Benfer. Er ist Deutscher, lebt und arbeitet aber seit über zehn Jahren in Stockholm. Im Rahmen eines Podiumsgesprächs versuchte er zu beschreiben, was das Besondere der schwedischen Chormusik ausmacht. Zunächst eine im Vergleich zu Deutschland nicht durch Weltkriege und Wirtschaftskrisen unterbrochene Singtradition. Des Weiteren die Neigung, ein bestimmtes Repertoire an Volksliedern weiterzupflegen. Es gab, so betonte Florian Benfer, in Skandinavien keinen Bruch im 20. Jahrhundert. „Und dann gab es eine ganz starke Singbewegung, sowohl von den Freikirchen, als auch von der politischen Richtung, der sozialdemokratischen Bewegung, und dort wurde schon sehr früh Chorsingen als zentraler Bestandteil angesehen. Deswegen gab es überall Chöre. Das ist heute auch nicht mehr so selbstverständlich, sagt Benfer, aber in Schweden profitiert man noch davon. „Gemeinsames Singen fördert auch in Dänemark den Zusammenhalt“, betont der Däne Morten Schuldt-Jensen, Professor für Chorleitung an der Musikhochschule in Freiburg im Breisgau, eine Tradition, die im 19. Jahrhundert vom Theologen und Sozialreformer Nikolai Frederik Severin Grundtvig begründet wurde. Bis heute sei Singen ein „Training für Demokraten“.
Skandinavische Chormusik ist in jedem Fall eine Bereicherung für Chorkonzerte hierzulande, auch der Landesjugendchor Nordrhein-Westfalen hat selbstverständlich solche Werke im Programm. Im Rahmen seines Auftritts auf der chor.com stellte er ein neues Konzertformat vor. Er möchte in Zukunft bei seinen Auftritten mit dem Publikum in Dialog treten. Dazu haben die jungen Leute weit mehr Stücke eingeübt, als zeitlich in ein Konzert passen, erzählt Mitsängerin Elisabeth Stollenwerk. „Wir singen etwas – und die Zuschauer erzählen dann, was ihnen dazu in den Kopf gekommen ist und dann versuchen wir, darauf zu reagieren.“ Und zwar mit einem passenden Chorwerk. In Hannover hat man das noch nicht ausprobiert, aber bereits erste Publikumsreaktionen eingefangen, die nun ausgewertet werden. Im November, erzählt Chorleiter Robert Göstl, sollen dann die ersten Konzerte dieser Art über die Bühne gehen, ein Aufführungsort wird Dortmund sein. „Ein zweiter Aufführungsort – das ist jetzt auch eine Coronafolge – wird noch gesucht, weil natürlich für dieses spezielle Format der Raum sehr klug gewählt werden muss“, betont Göstl. Für den Landesjugendchor NRW war die chor.com also auch ein Versuchslabor für die Zukunft, wie überhaupt für die meisten aktiven Chorleiterinnen und Chorleiter, die mit zahlreichen Anregungen im Gepäck aus Hannover abreisten.