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Mindestens eine Komponistin pro Programm: Mary Ellen Kitchens.  Foto: Meggie George
Mindestens eine Komponistin pro Programm: Mary Ellen Kitchens. Foto: Meggie George
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Wer Komponistinnen sucht, der findet sie auch

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Der Bundesjugendchor und das Archiv Frau und Musik leisten Recherche- und Repertoirehilfe
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Chorwerke von Komponistinnen stellte Mary Ellen Kitchens vom Archiv Frau und Musik im April bei einem Online-Seminar vor, zu dem der Bundesjugendchor eingeladen hatte. Rund 70 Teilnehmende staunten über das reiche Repertoire, das bisher kaum bekannt ist.

In vielen Musikinstitutionen und Stimm­gruppen sind Frauen noch immer unterrepräsentiert. Besonders deutlich zeigt sich der Gender Gap der Klassik im Konzertprogramm: In einer Studie zur Saison 2019/20 wertete die kalifornische Dirigentin und Bundeskanzlerstipendiatin Melissa Panlasigui Daten von 120 Orchestern mit über 2000 Konzerten aus. Bei den Abonnementreihen kam sie auf weniger als zwei Prozent Werke von Komponistinnen. In den Programmen zeitgenössischer Musikserien lag der Anteil bei 13 Prozent. Zahlen speziell für die Chormusik sind Mary Ellen Kitchens vom Archiv Frau und Musik in Frankfurt nicht bekannt. Sie dürften aber ähnlich ernüchternd sein.

Gleich zu Beginn des Online-Seminars bittet Kitchens die Teilnehmenden, Komponistinnen in den Chat zu schreiben, deren Werke sie schon gesungen oder dirigiert haben. Sie ist überrascht, dass schnell eine Liste von zwanzig Namen zusammenkommt: Neben Komponistinnen früherer Epochen wie Fanny Hensel, Clara Schumann und Nadia Boulanger werden viele noch lebende Komponistinnen genannt: Nana Forte, Karin Rehnqvist, Linda Spevacek, Maja Linderoth, Nancy Hill Cobb, Linda Tutas Haugen und andere.

Ihre eigene Prämisse sei es, in jedem Programm ihrer Ensembles mindes­tens eine Komponistin zu setzen, sagt Kitchens. In ihrem Studium der Musikwissenschaft seien ihr weder in den USA, Frankreich noch Deutschland Komponistinnen begegnet. Es ist die Zeit der sogenannten zweiten Frauenbewegung der 1970er und 80er Jahre, in der Frauen beginnen, Werke von Komponistinnen ausfindig zu machen, zu rekonstruieren, zu sammeln und herauszugeben. Vorreiterinnen sind die Musikwissenschaftlerinnen Eva Rieger und Antje Olivier. Die Dirigentin Elke Mascha Blankenburg gründet 1979 den Internationalen Arbeitskreis Frau und Musik, aus dem heraus die weltweit erste Sammlung mit Partituren von Komponistinnen entsteht, anfangs mit Sitz in Köln, inzwischen seit zwanzig Jahren in Frankfurt am Main.

Mit musica femina e.V. München entsteht in den 1980er Jahren eine weitere wichtige Institution. Im selben zeitlichen Umfeld wird auch der Furore Verlag in Kassel gegründet, der ausschließlich Werke von Frauen verlegt. „Dessen Arbeit ist sehr zentral und hat zum Beispiel maßgeblich zur Bekanntheit von Fanny Hensel beigetragen“, sagt Kitchens über den Verlag.

Heute finden sich im Onlinekatalog des Archiv Frau und Musik rund 1300 Chorwerke von Frauen. Die Ausrede, man habe ja nichts finden können, gilt also nicht mehr. Das Archiv berät auch individuell bei der Zusammenstellung von Programmen. Mary Ellen Kitchens empfiehlt darüber hinaus die Suche in diversen Onlinedatenbanken:

In engem Austausch steht das Archiv Frau und Musik etwa mit den Entwickler*innen der Chormusik Datenbank musicanet.org. Die Nutzung ist kostenlos, eine einjährige Mitgliedschaft für diese Online-Bibliothek kos­tet 200 Euro und bietet mehr Optionen. Filtert man nach weiblichem Geschlecht, zeigt die Datenbank 11.800 Einträge, wobei auch Stücke enthalten sind, bei denen das Arrangement von einer Frau stammt. Auch nach Land, Geburtsort oder Sterbeort kann man Komponist*innen filtern. Ein Vorteil an musicanet sind zahlreiche Links, über die man leicht Verlage, Aufnahmen und andere Informationen zu einem Stück findet. Außerdem sind die Chorwerke mit einem Schwierigkeitsgrad von eins bis fünf ausgewiesen.

Neben dieser über Jahre gewachsenen Datenbank beobachtet Kitchens in den letzten zwei bis drei Jahren erfreut, dass immer mehr spezifische Datenbanken für mehr Diversität entstehen. Die Seite composerdiversity.com enthält neben der Composer Diversity Database auch eine Choral Diversity Database, in der sich sehr genau nach Chorbesetzung und Instrumentalbegleitung filtern lässt, gleichzeitig nach Merkmalen der Komponist*innen. Für das Geschlecht gibt es hier mehr als nur die binären Kategorien sondern auch intersex, non-binary und andere. Außerdem lobt Kitchens, dass hier auch eine intersektionale Recherche möglich sei, da man zugleich nach demographischen Kritierien suchen könne, etwa Black, Latin American, Indigenous und andere.

In Frankreich entsteht seit letztem Jahr ebenfalls eine neue Datenbank: „Demandez à Clara“, Frag Clara, zu finden unter presencecompositrices.com. Dort sind bisher 400 Werke für Chor a cappella zu finden und es werden stetig mehr. „Ich bin nicht besorgt, dass so viel passiert im Moment sondern ganz im Gegenteil“, sagt Kitchens. Ihr Wunsch sei für die Zukunft, die vielen Datenbanken stärker miteinander zu verknüpfen, um die Suche zu vereinfachen.

Eine nützliche Quelle in der Recherche nach Komponistinnen ist außerdem das digitale Lexikon „MUGI – Musik und Gender im Internet“, ein Projekt der Hochschule für Musik und Theater Hamburg unter der Leitung von Beatrix Borchard. Zahlreiche weitere nützliche Links hat das Archiv Frau und Musik auf der eigenen Website unter der Rubrik „Recherche“ gesammelt.

Dass es unglaublich viel Musik von Komponistinnen gibt, daran bleibt nach dem Online-Seminar kein Zweifel. Trotz widriger Umstände und beschränkender Rollenbilder schafften es Frauen in allen Epochen, Musik zu komponieren. Dass wir heute so wenige von ihnen kennen, liegt vor allem an der Musikgeschichtsschreibung und damit eng verbunden der Arbeit von Verlagen und der Programmierung der Konzerthäuser und Ensembles. Eindrücklich zeigt sich das am Beispiel der englischen Komponistin Ethel Smyth, die in Leipzig studierte. Ihre Oper „Der Wald“ wurde 1902 an der Staatsoper Berlin uraufgeführt, noch im selben Jahr am Royal Opera House Covent Garden in London und ein Jahr später an der Metropolitan Opera in New York inszeniert. Es war die erste und hundert Jahre lang einzige Oper einer Komponistin an der Met, bis zur Aufführung von Kaija Saariahos Oper „L’amour de loin“ 2016. Bis heute kann man Musikwissenschaft oder Opernregie studieren, ohne dem Namen Smyth auch nur einmal zu begegnen. Die Erst­einspielung ihres sinfonischen Chorwerks „The Prison“ aus dem Jahr 1930 erschien 2020 beim Label Chandos.


  • musica femina münchen veranstaltet vom 8. bis 10. Oktober 2021 die Konferenz „Diversity in Music – Komponistinnen und Dirigentinnen im Musikleben heute“.
     

 

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