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„Theorina – Zauberin der Musik“ mit dem Mädchenchor der Sing-Akademie Berlin. Foto: Maren Glockner
„Theorina – Zauberin der Musik“ mit dem Mädchenchor der Sing-Akademie Berlin. Foto: Maren Glockner
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Wie sich Stimmen und Persönlichkeiten entwickeln

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Zum Symposium „Junge Stimmen – Kinder und Jugendliche Singen: im Chor!“ an der UdK Berlin
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Vom 8. bis 10. April 2022 veranstalteten der Staats- und Domchor Berlin und der Mädchenchor der Sing-Akademie zu Berlin nach drei Jahren Pause zum neunten Mal das Symposium „Junge Stimmen – Kinder und Jugendliche singen: im Chor!“ in den Räumen der Fakultät Musik der Universität der Künste Berlin. Wie viele andere Veranstaltungen war die eigentlich für April 2020 geplante Veranstaltung coronabedingt verschoben worden. Nun erhielten etwa 60 Chorleiter*innen, Gesangspädagog*innen, Studierende und Teilnehmende aus verschiedenen anderen Bereichen kurz vor den Osterferien neue Impulse und kreative Ideen für ihre Arbeit.

Bei der Begrüßung berichtete Kai-Uwe Jirka, Direktor des Staats- und Domchors Berlin und Gastgeber des Symposiums, in einer kurzen Rückschau über kreative Wege und Formate, um Handlungsspielräume für das gemeinsame Singen mit Kindern in Krisenzeiten zu erhalten. Statistisch gesehen hat jedoch die Pandemie vielerorts Kinder- und Jugendchöre in der Breite existentiell bedroht. Im Hinblick auf diese Lage stellte Gudrun Luise Gierszal, Leiterin des Symposiums und künstlerische Mitarbeiterin beim Staats- und Domchor Berlin, die Frage nach der Vision für Kinder- und Jugendchöre: „Kreativitätsforscher­*innen sagen, jeder kreative Prozess beginnt mit einem Problem. […] Erst aus dem Widerstand heraus kann Neues entstehen. Und deshalb stellt sich die Frage: Haben wir den Mut, unser Tun ganz neu zu denken? […] Wofür stehen wir eigentlich ein, warum braucht die Welt uns?“ Als Antwort darauf legte das Symposium in diesem Jahr den Schwerpunkt auf Stimme und Persönlichkeit: In fünf Vorträgen, drei Workshops, drei Kurzkonzerten, drei Projektvorstellungen sowie einer Filmvorführung und Probenhospitationen wurde das Singen mit Kindern und Jugendlichen nicht nur aus künstlerischen und gesangspädagogischen, sondern auch aus psychologischen und gesellschaftlichen Perspektiven betrachtet.

Jugendspezifisches Programm

Entsprechend seiner erweiterten Thematik bezog das Symposium Junge Stimmen mit dieser Ausgabe – wie der leicht erweiterte Titel andeutet – auch singende Jugendliche noch stärker mit ein. Das war insbesondere im jugendspezifischen Programm zu spüren: Im Workshop von Josefine Göhmann, der Stimmbildnerin des Mädchenchors der Sing-Akademie zu Berlin, wurde der in der Stimmforschung sehr viel weniger diskutierte Stimmwechsel bei Mädchen praktisch und theoretisch beleuchtet und aufgezeigt, dass dafür eine spezielle stimmbildnerische und pädagogische Betreuung nötig ist. Die Teilnehmenden konnten das immer noch weniger bekannte Phänomen besser kennenlernen, indem sie die Einzelstimmbildung mit Mädchenstimmen in den unterschiedlichen Altersstufen und vokalen Entwicklungsphasen beobachteten. Darüber hinaus präsentierten sich die 14- bis 17-jährigen jungen Männerstimmen des Staats- und Domchors, die sich ihr tiefes Stimmregister gerade neu erschließen, in einem moderierten Abschlusskonzert mit dem Titel „Voice in Progress“ unter der Leitung von Martin Meyer und berichteten über die eigene Wahrnehmung des Stimmwechsels im Kontext Chor.

Den roten Faden zwischen Stimme und Persönlichkeit knüpfte der Kinder- und Jugendpsychiater Michael Schulte-Markwort in seinem Vortrag „Die kindliche Seele und der Chor“. Neben dem Bericht über seine jüngsten klinischen Beobachtungen wie das Phänomen der „mutlosen Mädchen“ gab er einen Überblick über psychische Krankheiten bei Kindern und Jugendlichen. Besonders aufklärend war die Fragerunde, in der er vor allem die vor- und fürsorgliche Kommunikation mit Eltern betonte, wenn Pädagog*innen Kinder in ihrem Umfeld begegnen, die durch ein besonderes Verhalten ins Auge fallen. In einem weiteren Vortrag sprach der Facharzt für kindliche Stimm-, Sprach- und Hörstörungen am Universitätsklinikum Leipzig Michael Fuchs auch über das Thema Stimme und Persönlichkeit aus der Sicht der Stimmforschung. Er erklärte anhand der neurophysiologischen Grundlagen und der biopsychosozialen Aspekte die Zusammenhänge zwischen Stimm- und Persönlichkeitsentwicklung bei Kindern und Jugendlichen. So zeigen beispielsweise die aktuellen Studienergebnisse den Zusammenhang zwischen Stimmlautstärke und Persönlichkeit anhand empirischer Untersuchungen auf – grob gesagt sind zum Beispiel lauter sprechende Menschen tendenziell extrovertierter.

Neben den klinischen Experten referierten zwei weitere spannende Gäste über praxisnahe Konzepte im Kontext von sozialen Projekten: Die Direktorin für Kommunikation und Kultur bei Alba Berlin Rabea Weihser sprach über Strategien, wie der größte Basketballverein Deutschlands kulturelle Bildung und Sport zusammen denkt, und Kooperationen mit Kultur- und Bildungsinstitutionen in einem Pilotprojekt „Von Pisa nach Palermo“ aufbaut. Während ihr Vortrag den Fokus auf die strukturellen Kooperationen legte, berichtete der Musikpädagoge Juan David Garzón von seinen eigenen Erfahrungen mit Jugendlichen mit unterschiedlichen kulturellen und sozialen Hintergründen im Kontext von exemplarischen Musikprojekten. In seinem kombinierten Workshop „Community Music: Singen, ohne es zu bemerken“ konnten die Teilnehmenden mit ihren Körpern und Stimmen selbst erfahren, wie durch spielerische Aktivitäten eine angstfreie Atmosphäre kreiert werden kann, in der Kinder und Jugendliche frei und ohne Hemmungen singen können.

Inspirationen für den Alltag

Das Symposium gab den Teilnehmenden nicht nur fachwissenschaftlichen Input, sondern auch Inspiration und Anregungen für die Arbeit in ihrem Berufsalltag. So gab es die Möglichkeit, in Einzelstimmbildung und Chorproben in verschiedenen Altersgruppen von 5 bis 17 Jahren einschließlich der Stimmwechslergruppe des Staats- und Domchors zu hospitieren. Darüber hinaus wurden in Kurzkonzerten exemplarische Konzertformate mit Kindern und Jugendlichen präsentiert. Der Staats- und Domchor stellte unter anderem in einem Mitsing-Konzert „Das Schwein, das Ostereier legen konnte“ vor, wie eine musikalisch-literarische Zusammenarbeit mit einer sozialen Initiative gelingen kann. Die 2019 erschienene gleichnamige deutsch-tschetschenische Geschichte von der 13-jährigen Amina Gisaeva wurde mit europäischen Volksliedern, Klängen aus Tschetschenien und Neukompositionen zu einem interaktiven Konzertformat verwoben. Im Rahmen des Symposiums wurde auch weitere Chorliteratur vorgestellt, die die Teilnehmenden begeisterte.

So gehört das Hörspiel „Theorina – Zauberin der Musik“ der in Berlin lebenden Komponistin Katia Tchemberdji zu den Dingen, die die Teilnehmenden unbedingt mit ihren Chorkindern und Jugendlichen ausprobieren würden. Das pädagogisch konzipierte, humorvolle Hörspiel ist nicht nur eine gute Spielliteratur, sondern auch das Ergebnis eines erfolgreichen Projekts, das im Lockdown in Zusammenarbeit mit Mädchen der Sing-Akademie zu Berlin und deren Chorleiterinnen Friederike Stahmer und Cornelia Schlemmer entstanden ist. In der Projektvorstellung hörte man Ausschnitte aus dem Hörspiel und konnte in einer Reading Session exemplarische Stücke aus dem Programm mitsingen, etwa das Schlaflied mit dem Text: „Das ist Dur und mixolydisch, Moll harmonisch und auch noch phrygisch dazu!“


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