Man liest Zeitung, um möglichst all das mitzubekommen, was aktuell und interessant sein könnte – eine Fachzeitschrift, um die fachbezogenen Strömungen und neuesten Trends nicht zu verpassen. Deshalb greifen wir hier auf der Chorszeneseite aus gegebenem Anlass eine Abfolge von 26 hoch interessanten Kommentaren (Stand 15. Januar)) zu einem Beitrag im „Bad Blog of Musick“ vom 8. Januar auf und machen gleichzeitig ein wenig Werbung in eigener Sache für die online-Plattformen der nmz.
Denn längst nicht mehr finden die Fachdiskussionen (ausschließlich) in Leserbriefforen der Printmedien statt, längst bietet das Internet die Möglichkeit einer Diskussion quasi in Echtzeit. Und diese Mischung aus Spontaneität wie bei einer Livediskussion mit mehreren Menschen in einem Raum und dem dann doch möglichen Taktieren, wann und wie man den nächsten Kommentar setzt und ob man vor dem Abschicken noch eine Formulierung verändert oder nicht, hat schon was. Es lohnt sich auch für die aufbrechende Chorszene, sich im Netz nicht nur nach kostenlosen Noten und Fortbildungsveranstaltungen umzusehen, sondern auch ein wenig den Finger an den Puls der Zeit zu legen. Was und wie da gedacht wird, holen wir hier in den altehrwürdigen Raum des Gedruckten.
Im angesprochenen Beitrag und den Folgekommentaren ging es zunächst um Eric Whitacre. In der Überschrift des Ausgangsbeitrags wird er als „der gute Hirte Orwell’schen Big-Brother-Chorgesangs“ betitelt. In einer sehr amüsant zu lesenden Einleitung geht es Alexander Strauch zuerst um die Inszenierungen des von Whitacre erfundenen „virtual choir“. Es lässt sich schwer widersprechen und interessanterweise tut dies in diesem Punkt auch kein einziger der Kommentatoren: Das ist entweder eigenverantwortete und übertriebene Selbstdarstellung in Reinkultur oder Selbstaufgabe zugunsten einer Totalvermarktung in Form von Personenkult. Auch wird kurz und sehr tief treffend ein Problem angesprochen, das wahrlich nicht nur in diesem Zusammenhang existiert: Die einzelnen virtuell singenden Menschen werden instrumentalisiert und benutzt – wo ist da der Unterschied zum „Stimmvieh“, das der Selbstdarstellung von Dirigenten jeder Zeit zu dienen hatte? Wie gesagt entspinnt sich leider zu diesem mehr als kritikwürdigen Themenkomplex in der ganzen engagierten Diskussion kein Strang der Auseinandersetzung. Aber was bis zum 15. Januar 2013 nicht war, kann ja noch kommen…
Vielmehr wird von den sich Beteiligenden der im Beitrag nicht zentrale Absatz aufgegriffen, in dem es um Whitacres Kompositionen als solche geht. Sind sie wertvoll? Haben sie Form, Melodie, Harmonik? Wo wurde geklaut und wie geschickt geschah dies? Ist das Ganze wenigstens gutes Handwerk oder doch nur „klebrige Chorsoße… kotz!“? Nun werden aufgrund dieses Zitates einige Internet-skeptische Menschen sofort jedes Vorurteil bedient sehen und beschließen, sich solch stillose und sprachlich fragwürdige Kommentare erst gar nicht anzusehen. Aber da würde man der Diskussion auch in diesem speziellen Punkt nicht gerecht. Denn es finden sich auch detaillierte und begründete Statements bis hin zu ausführlicher Analyse und vor allem kommt auch zur Sprache, was die (jungen?) Menschen bewegt, Withacre gut zu finden: Gefühl („… aware …“ – hoch interessant!) gehört nämlich für einige auch zur Chormusik und es ist schade, dass wieder einmal Gefühl, „Spaß“ und Intellekt gegeneinander ausgespielt werden. Nachzulesen all das im Netz, hier nicht der Vertiefung wert.
Wohl der Vertiefung wert sind die aus der guten alten Qualitätsdiskussion entspringenden Fragen, ob denn dann Whitacre überhaupt und wenn ja, von wem gesungen werden darf oder sollte. Strauch greift hier die Chorleiter von semiprofessionellen und zumindest ambitionierten Chören relativ scharf an (es „versagen hierin die leitenden Profis der Whitacre singenden Chöre auf ganzer Linie!“ in Bezug auf eine „Art ästhetische Qualitätskontrolle“) und es wäre interessant, wenn sich hier in der Diskussion noch einige aus der Deckung wagen würden und begründeten, warum sie Whitacre singen (lassen). Der Vorwurf lautet im Kern, dass man mit überschaubarem technischem Aufwand sich mehr des äußeren Effektes versichert und solche Musik als Feigenblatt des Zeitgenössischen (leben tut der Mann ja – daran ist nicht zu rütteln) benutzt, um zeitgemäß einen Mainstream und vor allem einen dekadenten Publikumsgeschmack zu bedienen. Wo – so wird gefragt – ist der Mut zu „echt“ Neuem, zur Provokation und Experiment? Mehrfach nennt Strauch hier das Chorbuch der Wiener Arbeiterbewegung als Beispiel für echten Aufbruch in neue Dimensionen, den er heute nicht mehr sieht. Und diese Fragestellung ist mehr als berechtigt.
In der Blog-Diskussion verhakt man sich dabei zu sehr in der Frage, ob konkret Whitacre gesungen werden darf. Ginge man verstärkt der Frage nach, was denn alles an zeitgenössischer Musik diese unterschiedlichen Diskutanten des Singens unabhängig von Whitacre für wert halten, so käme man ein gutes Stück weiter. Einzelne Komponisten werden da genannt, die – und da hat Strauch einfach Recht – in den Programmen beispielsweise von Landesjugendchören oder in dem eines Deutschen JugendKammerChores (mea culpa, mea maxima culpa!) fehlen, während Whitacre eigentlich jeder „macht“, ja beinahe meint machen zu müssen. Die Gründe hierfür umfassend darzustellen und zu differenzieren, würde zu weit führen. Aber man tut demjenigen, der eine solche These oder besser Forderung in den Raum stellt unrecht, wenn man ihm als Motiv nur Neid unterstellt – schön zu lesen an dieser Stelle des Kommentarverlaufs übrigens, wie es diesbezüglich und vor allem bei der Frage, wer wie qualifiziert ist, richtig schön giftig wird …
Nachdem nun also der Jugendkammerchorleiter im Autor dieser Zeilen sein „coming out“ hatte (ja, wir hatten „Lux aurumque“ im Programm und ich habe es genossen) und durchaus nachdenklich sein Tun überdenken wird, ist jetzt der Hochschullehrer dran. Denn die Chorleitungsdozenten an den Hochschulen mag Strauch offenbar noch viel weniger als die erste Zielgruppe seiner Attacke. Ihnen schreibt er die Hauptverantwortung für etwas zu, was wir hier in unserer Überschrift zuspitzend „Volksverdummung“ genannt haben. Einer solchen in Bezug auf das Chorrepertoire „… leisteten all die Angsthasen unter den Dozenten an den Musikhochschulen Vorschub, die gute Noten vor allem für das beste Proben- und Wohlfühlentertainment ihrer Studierenden in den letzten 30 Jahren vergaben und dafür … ein Repertoire mit Niveau opferten“. Ob das der interessanteste Teil der Diskussion im Netz ist, entscheide jeder selbst. Jedenfalls ist es einer der wichtigsten und alle Ausbildenden und alle Studierenden (!) sollten ihn nachlesen. Denn in der Tat werden die jungen Chorleiterinnen und Chorleiter, vor allem die Schulmusiker zunächst das praktizieren, was sie an den Hochschulen gelernt haben. Das ist im zeitgenössischen Bereich dann auch nicht unbedingt Withacre – es ist manchmal einfach eine Kurve gegen Null. Und man kann schnell von der Frage nach Zeitgenössischem weg in andere Bereiche schauen, um die es auch nicht besser bestellt ist. Denn häufig wird auch im klassischen Bereich das angeboten und ständig wiedergekäut, was ankommt und wenig Widerstand befürchten lässt. Sicher – man sollte das Weihnachtsoratorium einmal gesungen haben und den Messiah, aber zu überlegen ist wahrlich, ob dafür die wertvolle Studienzeit verwendet werden muss.
Strauch und andere wehren und verwahren sich zu Recht allgemein gesprochen gegen einen bequemen Weg des geringsten Widerstands. Sollen vor allem Lehramtsstudierende also nur lernen, was bei komplett avokal aufgewachsenen und bildungsfernen „Problemkindern“ ankommt und sie wenigstens zu irgendeiner singähnlichen Äußerung führt? Oder bringen wir ihnen vielleicht doch besser die Wege der Selektion bei, durch die sie die „richtigen“ Kinder und Jugendlichen auswählen, um in ihrem Schulchor das klassische Repertoire zu singen, weswegen sie einst Musik studieren wollten? Lautet also die Frage tatsächlich „Withacre versus Rihm“ oder liegt die Problematik nicht auf einer viel tieferen Ebene bei der Lebensentscheidung, ob Pädagogik nicht nur provozieren darf, sondern sogar muss? Ein beinahe unlösbarer Spagat, der verantwortungsbewusst Lehrende oft fast zerreißt und der unter Einbeziehung populärer Musik nicht einfacher und schon gar nicht gelöst wird.
Zurückkommend auf Strauchs Mahnruf lässt sich nur eines zweifelsfrei feststellen: Jede Eindimensionalität ist per se ein Irrweg. Immerhin findet diese Diskussion bereits auch außerhalb von „Bad Blogs“ statt, Entwicklungen werden aber nur in Gang kommen, wenn Leute sich die Zeit nehmen, sich mit sich selbst, mit anderen und mit den immer neuen und immer alten Themen auseinanderzusetzen. Ob der geneigte Leser unserer Papierseiten also nun komponiert, dirigiert, doziert, verbandsmeiert oder einfach nur singt – schauen Sie doch einfach mal in die Tiefen des Netzes und greifen Sie dann zur Tastatur oder auch ganz altmodisch zum Stift! Fast jeder Beitrag bringt uns weiter – zuletzt übrigens unten stehende Meldung, dass das SWR Vokalensemble zusammen mit der Musikhochschule in Stuttgart eine Chorakademie gründet. Geht doch – und wird bereits im „Bad Blog“ thematisiert…