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Bevor der Lappen hochgeht: letzter Check der Positionen vor dem Auftritt. Foto: Susanne van Loon

Bevor der Lappen hochgeht: letzter Check der Positionen vor dem Auftritt.

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Das Phänomen Lampenfieber

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Zwischen Künstleralltag und Pathologie · Von Hans-Jürgen Schaal
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Verschiedene Studien der letzten Jahrzehnte zeigen:  Lampenfieber ist unter professionellen Musikausübenden und Musikstudierenden ein verbreitetes Phänomen.

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Die Ergebnisse diverser Studien legen nahe, dass 10 bis 30 Prozent der beruflich Musizierenden vor und bei Auftritten (fast) immer ein störendes, unangenehmes Lampenfieber empfinden, das ihre Konzentration und die Performance beeinträchtigt. Je schwieriger und spezifischer die musikalische Aufgabe ist, desto größer und quälender scheint dabei die Bühnen-Nervosität zu sein. Wenn ein heikles Solo oder eine anstrengende Führungsstimme gefordert sind, stellt sich Lampenfieber stärker ein als beim Satzspiel in der 2. Violine. Klassische Solisten oder Bigband-Stimmführer im Jazz sind eher gefährdet als improvisierende Musiker oder Rockschlagzeuger. Die Auftrittsangst ist also gekoppelt an die individuelle Wahrnehmbarkeit, die Präsentation, die Erwartungen, die mögliche „Fallhöhe“. Unter Schauspielern, Journalisten, Dozenten, Interviewpartnern gibt es ähnliche Phänomene: Bühnenangst, Kameraangst, Vortragsangst, Mikrofonangst oder Sprechangst.

Die Symptome des Lampenfiebers sind von Mensch zu Mensch verschieden. Häufig klagen die Betroffenen über Trockenheit im Mund, Schluck- und Atembeschwerden, Herzrasen, Übelkeit, ein Zittern der Hände, einzelner Muskeln oder des ganzen Körpers. Gelegentlich ist auch von Kreislaufbeschwerden, Schwindel-, Erstickungs- und Taubheitsgefühlen, Migräne, feuchten Händen, Schweißausbrüchen, Harndrang oder Bauchschmerzen die Rede. Solche Symp­tome verbinden sich mit Konzentrationsschwächen und daher mit begründeten Versagensängsten. Man vergisst womöglich musikalische Details, entwickelt panische Bewegungen oder ist wie blockiert und erstarrt zur Salzsäule. Vokalisten kann die Stimme versagen, Bläser verlieren plötzlich ihren Ansatz, Pianistenhände werden unsicher. Die von Lampenfieber Betroffenen erleben das als traumatischen Kontrollverlust.

Positives und negatives Lampenfieber

Offenbar gibt es auch Musizierende, die grundsätzlich überhaupt kein Lampenfieber kennen. Andere erleben Lampenfieber hin und wieder. Noch andere haben es immer und ein Leben lang – bei jedem Auftritt. Oft wird Lampenfieber allerdings auch als etwas Positives erfahren – als eine nervöse Spannung, die das Konzentrations- und Reaktionsvermögen erhöht und auf diese Weise Spitzenleis­tungen erst ermöglicht. Wenn der Adrenalinspiegel steigt, werden Gehirn und Muskeln besser durchblutet. Dann fühlt man sich wach und zu allem bereit – eine genetisch verankerte Fähigkeit, die evolutionär der Selbsterhaltung in Gefahrensituationen dient. Viele Musikausübende schätzen daher den „Stress“ einer Aufführung, weil er sie besonders motiviert. Diesen Effekt kennen auch Leistungssportler – etwa Leichtathleten, die unter der Anspannung eines entscheidenden Finales über sich hinauswachsen können und noch ihre besten Trainingsleistungen übertreffen. 

Ganz anders als diese „motivierende“ Nervosität ist aber das „blockierende“ Lampenfieber, das die Konzentration gerade schwächt und die Performance verschlechtert. Dieses unangenehme Phänomen sollte man daher eher Auftrittsangst oder Bühnenangst nennen – im Englischen heißt es „stage fright“. Die Musikermedizinerin Dr. Claudia Spahn sagt: „Uns ist eine Unterscheidung dieser Begriffe sehr wichtig. Viele Berufsgruppen verspüren bei Auftritten eine Aufregung, die anders ist, als wenn man zum Beispiel zu Hause im Sessel sitzt, und halten das für eine krankhafte Erscheinung. Das ist aber ein [...] falsches Selbstbild. Lampenfieber ist im Gegenteil ein positives Phänomen, das hilft, auf der Bühne konzentrierter aufzutreten. Es gibt jedoch auch den Fall, dass jemand auf der Bühne völlig handlungsunfähig wird und seine Leistung nicht mehr adäquat erbringen kann. In solchen Fällen spricht man dann nicht mehr von einem gesunden Lampenfieber, sondern von Auftrittsangst, die in jedem Fall behandlungsbedürftig ist.“

Krankhafte Bühnen- oder Auftrittsangst ist wie eine „self-fulfilling prophecy“: Die Angst löst Versagen aus, das Versagen bestätigt die Angst und verstärkt sie dadurch noch. Es droht eine pathologische Spirale, die Entwicklung eines Angstkomplexes, ein ständiges Antizipieren der eigenen Unzulänglichkeit. Psychologen meinen, dass solche Bühnenangst sogar auf andere Situationen übergreifen und sich zur sozialen Phobie steigern kann. Plötzlich sind dann auch alltägliche Interaktionen angstbesetzt, etwa Familien­feiern, Dienstbesprechungen, Arztbesuche oder zufällige Begegnungen. Die Betroffenen werden privat und beruflich durch Versagensängste ausgebremst. Möglicherweise entwickeln sie ein aktives Vermeidungsverhalten, sagen Einladungen ab, verzichten auf den beruflichen Aufstieg. Musizierende verweigern zum Beispiel Bühnenansagen, dann Live-Auftritte überhaupt, werden unglücklich, entwickeln Suizidgedanken. Die Jazzposaunistin Karin Hammar sagt: „Ich kenne Musiker, die aufgegeben haben, weil sie mit diesem Druck nicht mehr zurechtkamen.“   

Ist Abhilfe möglich? Leider versuchen Betroffene immer wieder, ihre Bühnenangst mit Alkohol, Betablockern oder leichten Drogen zu überspielen. Ein heilsamer Effekt kann sich dabei nicht einstellen, zumal solche Mittel die Konzentration nicht verbessern, sondern noch weiter schwächen. Sinnvolle Hilfe verlangt dagegen, dass man die psychologische Ausgangslage begreift und akzeptiert. Wer an Bühnenangst (oder allgemein an sozialer Phobie) leidet, fürchtet offenbar negativ aufzufallen, schlecht bewertet zu werden, Kritik ausgesetzt zu sein. Gäbe es nicht diese soziale Angst vor Kritik, gäbe es auch keinen Grund, das Versagen zu fürchten. Psychologen sprechen daher von einem Mangel an Selbstwertschätzung. Wer seine eigenen Stärken kennt und stolz auf sie ist, kann auch mit Fehlern leben und leidet nicht unter schlechten Bewertungen. Ein erster Schritt, das eigene Selbstbewusstsein zu stärken, können Atem-, Entspannungs- und Mentaltechniken sein. In der Praxis haben sich Meditation, Yoga, Autogenes Training, Feldenkrais-Übungen oder Alexander-Technik bewährt.

Die Posaunistin Karin Hammar, die (nach eigenen Angaben) früher selbst an Bühnenangst gelitten hat, bietet inzwischen Seminare für Betroffene an. „Gewöhnlich erwähne ich meine eigenen Erfahrungen – da kommen dann immer Fragen. Erstaunlicherweise weiß kaum jemand, dass man solche Probleme überwinden kann. Dass es Übungen dazu gibt, die man für sich allein machen kann. Dass man mit solchen Ängsten nicht dauerhaft leben muss. Es ist sehr wichtig, darüber zu sprechen. Alle Teilnehmer am Seminar kennen diese Nervosität. Aber wenn die Nervosität dich davon abhält, deine volle Leistung zu erbringen, dann musst du dich mit dem Thema beschäftigen. Warum solltest du eine Bühne betreten, wenn du dort unter deinen Möglichkeiten bleibst?“

Das Selbstwertgefühl stärken

Zur Stärkung des Selbstwertgefühls empfiehlt Hammar vor allem die mentale, positive Antizipation – eine Technik, die Sportler schon lange praktizieren. „Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass man sein Gehirn auf eine Sache trainieren kann, indem man sie sich einfach nur vorstellt. Die Synapsen stellen dann die Verbindung her, ohne dass man die Sache selbst tut. Am besten, du antizipierst, dass du in einer wichtigen Situation deinen besten Auftritt hinlegst. Du kannst dich für diese Übung entspannt aufs Sofa legen wie zum Meditieren. Dann stell dir vor, wie du dein Instrument spielst, höre es: Du spielst besser als je zuvor und siehst dabei richtig gut aus. Je mehr Details du dir ausmalst, desto besser. Dann gehst du in dieses Bild hinein und spürst, wie es sich anfühlt, wenn alles perfekt läuft. So trainierst du dein Gehirn für den perfekten Auftritt – und damit wird er wahrscheinlicher. Das funktioniert nicht auf Anhieb, du musst an diesem mentalen Training arbeiten.“

Die Bühnenpräsenz verbessern

Psychologen wissen, dass Menschen in bestimmten Lebensphasen besonders gefährdet sind, an Bühnenängsten zu leiden. Das gilt etwa für Pubertierende, die sich und ihre körperliche Präsenz in der Gruppe oder Schulklasse völlig neu erleben. Oder für Musikstudierende, die sich ständigen Prüfungen ausgesetzt sehen und leicht auch beim Vorspiel vor Dozent und Hochschulklasse eine Auftrittsangst entwickeln können. Auch Dr. Claudia Spahn empfiehlt für die Behandlung den Einsatz von Entspannungsübungen und mentalen Techniken. „Dazu kommt dann noch die Körperarbeit selbst. Ein sehr guter Ansatzpunkt ist der Atem, weil er gleichzeitig den Ton gestaltet und Verbindung zu den Gefühlen herstellt. Auf diese Weise kann man auch körperliche Symptome wie Herzklopfen positiv beeinflussen. Der letzte wichtige Punkt ist die Auftrittspraxis. Mit jungen Musikern gehe ich auf die Bühne und übe dort mit ihnen, wie man die Präsenz verbessern kann.“

Pathologisches Lampenfieber ist ein Thema, das lange Zeit tabuisiert wurde. Musizierende vermeiden es gewöhnlich, über ihre Auftrittsängste zu sprechen – dabei gehört das Thema unbedingt in den Lehrplan jedes Musikstudiums. Wer an Auftrittsangst leidet, sollte ermutigt werden, über dieses Problem zu sprechen, es mit mentalen Techniken in Angriff zu nehmen (allein oder in einer Gruppe) und notfalls professionelle Hilfe zu suchen, etwa einen Mental-Trainer oder eine psychologische bzw. psychotherapeutische Behandlung. Musizierende haben ein Recht darauf, im Konzert ihr Bestes geben zu können. Karin Hammar rät Betroffenen grundsätzlich, sich beim Betreten der Konzertbühne „zu grounden“: „Konzentriere dich auf etwas Bestimmtes, zum Beispiel aufs Atmen – wie in einer Meditation. Oder konzentriere dich darauf, wie deine Füße den Boden berühren. ‚Grounde‘ dich, indem du dein Gewicht auf die Fersen legst – so kontrollierst du dein Bewusstsein. Du musst mental vorbereitet sein, anderenfalls bettelst du geradezu um Bühnenangst. Wenn du deinen Geist im Zaum hast, sorgt der Körper schon für sich selber. Dafür hast du ja die Musik stundenlang geübt.“

  • Die Zitate von Karin Hammar stammen aus einem Interview mit dem Autor von 2012.

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