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Carl Flesch. Foto: George Grantham Bain Collection/Library of Congress, Washington, D.C.

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„Entweder übt man oder man musiziert“

Untertitel
Der legendäre Violinpädagoge Carl Flesch (1873–1944) in Zitaten
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Die Unterrichtswerke Carl Fleschs, allen voran „Die Kunst des Violinspiels“ (KdV), zeichnen sich durch die systematische Durchdringung des Stoffgebiets und die ungeheure Repertoirebreite der immer wieder herangezogenen Literaturbeispiele aus. Als Hommage zum 150. Geburtstag des Maßstab setzenden Pädagogen sind im Folgenden einige Kostproben seines präzisen Stils versammelt:

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Das sog. Reinspielen ist demnach nichts als eine äußerst rasche, geschickt ausgeführte Verbesserung der ursprünglich ungenau getroffenen Tonhöhe. Beim Unreinspielen hingegen bleibt der Ton während seiner ganzen Dauer ebenso falsch, wie er im Augenblick seiner Entstehung gewesen ist. [KdV I, S. 10]

Was die Geige vor allen anderen Instrumenten auszeichnet, ist, daß sie durch die Mannigfaltigkeit ihrer Klangfarben gewissermaßen eine Mehrheit von Stimmregistern und Musikinstrumenten in sich birgt. [KdV I, S. 73]

Sehr wenige Geiger verstehen es, die Farben ihrer Palette in der Weise zu mischen, daß nicht nur der musikalische Charakter der zu spielenden Phrase verdeutlicht wird, sondern daß auch eine Differenzierung ihrer einzelnen Bestandteile vermittels passender Klangfarbenmischung erreicht sowie die durch einförmig graue Tongebung eintretende Abstumpfung des Hörers vermieden wird. [KdV I, S. 74]

Wir können demnach folgende drei Stadien auf dem Weg vom „Nichtkönnen“ zum „Können“ unterscheiden:

1. Bewußtes Ausführen der einzelnen, durch das Notenbild veranlaßten Bewegungen: nichtkennen und nichtkönnen.

2. Zusammenfassen der einzelnen Bewegungen in Komplexe, mechanische Ausführung als Folge eines durch das Erblicken des Notenbildes gegebenen Anstoßes: kennen ohne auswendig zu können.

3. Das äußerliche Vorhandensein des Notenbildes wird unnötig – die Ausführung erfolgt als alleinige Folge eines inneren Impulses. Können = auswendig spielen. [KdV I, S. 77]

Üben wird immer mehr oder weniger eine aus Wiederholungen bestehende bewußte Tätigkeit sein, mit deren Hilfe wir der Schwierigkeiten, die sich einem korrekten Bewegungsablauf entgegenstellen, Herr zu werden suchen. Die Ausübung hingegen, die Wiedergabe eines Kunstwerkes, das reine Musizieren reicht hinunter bis in die Tiefen des unbewußten Seelenlebens. Entweder übt man oder man musiziert. Tut man beides gleichzeitig, so kommt keines zu seinem Recht. [KdV I, S. 128]

Der Maßstab für den richtigen Übungsklang besteht darin, daß er unfreiwilligen Zuhörern nicht unerträglich wird. [KdV I, S. 136]

Es gibt zwei Arten verkehrten Übens: die Erhebung einer an sich richtigen, jedoch nebensächlichen Einsicht zum Grundsatz einerseits, die Beherrschung der Übungsmethodik durch einen völlig falschen Grundsatz von eingebildetem Wert andererseits. [KdV I, S. 136]

Viele Geiger haben die leidige Angewohnheit, ohne äußeren Grund immer wieder die leeren Saiten anzustreichen, als ob diese sich andauernd im verstimmten Zustande befänden. Diese, für fahrige Naturen kennzeichnende, üble Angewohnheit ist schon deshalb verwerflich, weil der Faden der für das Studium unumgänglich notwendigen Sammlung fortwährend zerrissen wird und wieder neu geknüpft werden muss. [KdV I, S. 138]

Damit die innere Vorstellung einer Tonfolge in unserem Bewußtsein wirklich tief verankert sei, ist es nützlich ihr äußeres Bild möglichst oft gesehen zu haben. Je öfter wir ein Stück aus den Noten spielen, desto mehr wird uns neben dem Klang, den wir hören, der Bewegung, die wir fühlen, auch das Notenbild, das wir sehen, gegenwärtig sein. [KdV I, S. 139]

Erst die vollkommene geistige und körperliche Beherrschung der unter dem Gesamtbegriff Technik zusammengefaßten Einzeldisziplinen bietet uns die Gewähr für die Verwirklichung unserer künstlerischen Absichten. Technisches Können und musikalisches Gestalten sind den körperlichen und geistigen Tätigkeiten des Menschen zu vergleichen. Wie ohne Gesundheit des Körpers die Seele sich nicht voll entfalten kann, so hängt auch unser Ausdrucksvermögen in erster Linie von der Art und dem Umfang unseres technischen Vermögens ab. Dieser Besitz und nur er allein bildet die Grundlage, auf der das stolze Gebäude echter Kunst sich erheben kann. [KdV I, S. 142]

Wir unterscheiden drei Arten des musikalischen Menschen: den produktiven, der die Werke schafft, den rezeptiven, der sie in sich aufnimmt, und den reproduktiven, der das Schaffen des einen dem Verständnis des anderen vermittelt. Der reproduktive Künstler ist aber nicht bloß der Mittelsmann zwischen schaffendem Komponisten und genießendem Hörer, er stellt auch insofern eine Synthese des Wesens beider dar, als er die Neuschöpfung des Notensymbols in Klang, die Umwandlung des toten Buchstabens in lebensvolle Empfindung mit eigener akustischer Wahrnehmung verbindet. [KdV II, S. 1]

Das Hauptproblem in der Kunst des Vortrags besteht darin, die Freiheit der eigenen Individualität mit der Bindung an ein gegebenes Kunstwerk und den darin ausgedrückten Absichten des Komponisten in Übereinstimmung zu bringen. [KdV II, S. 9]

Der Künstler hat in freier, unbefangener Gebe- und Empfangsbereitschaft im Augenblick der künstlerischen Wiedergabe an ein Werk heranzutreten, vorher jedoch – während der technischen und seelischen Vorbereitung – sich von den stilistischen Eigenheiten des Schöpfers, der Zeit, in der er gelebt, vom Empfindungsgehalt der ganzen Gattung sowie des Werkes selbst Rechenschaft abzulegen und seine seelische Bereitschaft auf diese Nuance abzustimmen. [KdV II, S. 54]

Die unvermeidliche Schweißabsonderung kann bloß dann zu einem die Leistung selbst schädigenden Faktor werden, wenn sie sich ausschließlich und übermäßig in den Händen lokalisiert. Verteilt sie sich hingegen in natürlicher Weise auf den ganzen Körper, so ist ihr Hauptnachteil anderer Art. Ein stark transpirierender Künstler ruft immer den Eindruck hervor, eine Arbeitsleistung zu verrichten, die zum Teil über seine Kräfte geht, und für das Publikum bildet der Anblick von anscheinend spielend bewältigten Schwierigkeiten an sich schon einen Genuß ästhetischer Art. [KdV II, S. 60]

Entsprechend ihrer inneren Veranlagung und äußeren Durchbildung unterrichten jedoch die meisten Lehrer ebenso triebhaft, wie sie Violine spielen. Daher das ungemein niedrige Niveau des Lehrberufs für die Geige in der gesam­ten Kulturwelt. Daher der Tiefstand der geigenden Masse. [KdV II, S. 64]

Der Blick ins Publikum wirkt vor allem dann störend, wenn wir die Anwesenheit gewisser Persönlichkeiten festzustellen gezwungen sind, deren uns bekannte Gesinnung mit der Sympathie, die zwischen Hörer und Spieler herrschen sollte, nicht übereinstimmt. [KdV II, S. 89]

Das wünschenswerte Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler schließt das recht des Schülers ein, Aufklärung über Maßnahmen, die ihm von zweifelhaftem Nutzen scheinen, zu verlangen. [KdV II, S. 117]

  • Carl Flesch: Die Kunst des Violinspiels. 2 Bände, Berlin 1929, 2/1978

    Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Musikverlags Ries & Erler, Berlin

    Zusammenstellung: Juan Martin Koch

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