Hat ein Mädchen einen Anspruch darauf, in einem Knabenchor mitzusingen? Darüber hat das Berliner Verwaltungsgericht verhandelt. Die Richter nahmen sich Zeit für eine Entscheidung. Liegt ein Fall von Diskriminierung vor, wenn ein Mädchen nicht in einem Knabenchor singen darf? Über diese Frage musste das Berliner Verwaltungsgericht am Freitag entscheiden – und wies die Klage einer Neunjährigen auf Aufnahme in dem nur von Jungen gebildeten Staats-und Domchor zurück.
Vor Gericht gezogen war die Mutter des Mädchens – und gleichzeitig auch seine Anwältin weil sie das Recht ihrer Tochter auf Gleichberechtigung verletzt sah.
Es gehe hier um einen Konflikt zwischen Gleichheit vor dem Gesetz und um die Kunstfreiheit, fasste der Vorsitzende Richter nach rund drei Stunden den Konflikt zusammen. Doch in seiner Entscheidung setzte das Gericht die Freiheit des Chores, sich seine Sänger selber auszusuchen vor das Verfassungsprinzip der Gleichheit der Geschlechter.
Das Gericht sah aber in dem Streit einen „Pilotfall“ und hat deswegen eine Berufung zugelassen.
Die Berliner Schülerin, die in dem auf Musik ausgerichteten Händel-Gymnasium in Berlin mit einer hohen Punktzahl aufgenommen worden war, hatte sich im November 2018 um einen Platz im Staats- und Domchor beworben. Die Voraussetzungen, so sieht es ihre Mutter, waren blendend. Schließlich hatte ihr Kind schon im Chor der Komischen Oper und in der Frankfurter Domsingschule gesungen. Nun sollte die Stimme des Mädchens in dem 1465 als Hof- und Kirchenchor gegründeten Ensemble, das heute zur Universität der Künste (UdK) gehört, weiter ausgebildet werden.
Nicht geeignet, urteilte aber Chorleiter Kai-Uwe Jirka nach einem Vorsingen. Dem Mädchen fehlten die Voraussetzungen für ein Spitzenensemble, das etwa mit den Berliner Philharmonikern und dem Konzerthausorchester Berlin auftritt. In einer eigens von der Mutter (und Anwältin) geforderten Stellungnahme begründete Jirka im März 2019 auch schriftlich die Ablehnung.
Eine gute Stimme, aber keine Spitzenbegabung, hieß es darin. Außerdem fehle dem Kind die Motivation, um in seinem Konzertchor zu singen. Geschlechtsfragen, so betonte Jirka am Freitag auch vor Gericht, hätten bei der Ablehnung keine Rolle gespielt.
Allerdings hatte die UdK in einem Brief an die Mutter zunächst geschrieben, die Aussicht, dass ihre Tochter im Chor aufgenommen werde, sei so groß, wie etwa die eines Klarinettisten, in einem Streichquartett zu spielen – nämlich null. Also doch eine Geschlechterfrage?
Mit ihrer Klage wolle sie das Recht ihrer Tochter auf eine gute Stimmausbildung durchsetzen, argumentierte die Anwältin der Neunjährigen. Als öffentliche Einrichtung sei der Staats- und Domchor zur Gleichbehandlung verpflichtet. Die Unterschiede zwischen Mädchen- und Jungenstimmen seien nicht so gravierend, wie immer wieder dargestellt. Das hätten auch Untersuchungen ergeben.
Dieser Vermutung widersprach Chorleiter Jirka. Die Stimme eines Jungen sei bis zum Stimmbruch mit etwa 13 Jahren unvergleichbar mit der Stimme eines Mädchens, die sich früher (und nicht so extrem) verändert. Dank Körperwachstum und einiger Testosteronschübe klinge die Jungenstimme dann am schönsten – „ein letzter Schwanengesang“ bevor sie dann ins Krächzen übergehe.
Dass Knabenchöre etwas besonderes sind, wussten etwa auch Gustav Mahler oder Hector Berlioz, die in einigen Kompositionen ausdrücklich Knabenchöre vorgeschrieben hatten. Und im übrigen sei der Staats- und Domchor in erster Linie keine Ausbildungsstätte, sondern ein Kunstensemble. Deswegen habe er auch als Leiter das letzte Wort, sagte Jirka.
Die Anwältin sieht diese Begründung als vorgeschoben. Der Chor wolle eben keine Mädchen aufnehmen. Am Ende sei es doch nur eine Frage der Ausbildung, dass eine Stimme so klingt, dass sie zu einem Chor passt. Da schüttelte Chorleiter Jirka mit dem Kopf. Es mache keinen Sinn, eine Mädchenstimme so zu trimmen, dass sie wie die eines Jungen klingt. „Warum wollten das Eltern ihrer Tochter antun?“, fragte er vor Gericht.
Ob sie in die Berufung geht, will die Mutter mit der schriftlichen Begründung des Gerichts entscheiden. Doch sie hoffe, dass in Zukunft ein anderes Mädchen den Mut habe, gegen eine männliche Tradition vor Gericht zu ziehen.