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Franz Danksagmüller am „Gulliphon“, ein improvisatives, mit Elektronik verbundenes Streichinstrument.  Foto: Olaf Malzahn
Franz Danksagmüller am „Gulliphon“, ein improvisatives, mit Elektronik verbundenes Streichinstrument. Foto: Olaf Malzahn
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Am Wendepunkt

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Initiativen an der MHL zur Reform der Kirchenmusikausbildung
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Kirchengemeinden haben nicht mehr die einladende Zugkraft vergangener Zeiten: Krisen schütteln ihre Glaubwürdigkeit, Gottesdienstbesucherinnen und -besucher bleiben vielerorts fern. Die Ausbildungsstätten für Kirchenmusik reagieren mit Neukonzeption ihrer Ausbildung auf diese Entwicklung, um künftige Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker zu befähigen, wieder mehr Strahlkraft in ihren Gemeinden zu entfalten. Bereits 2014 hat die Musikhochschule Lübeck (MHL) deshalb damit begonnen, die Kirchenmusikausbildung zu reformieren. Mit dem Symposium „Kirchen, Kult und Klänge“ will sie nun im Oktober die Diskussion über neue Wege in der Kirchenmusik bundesweit anregen.

Aufbruchstimmung

MHL-Orgelprofessor Franz Danksagmüller, der den neuen Master Kirchenmusik an der MHL initiiert hat, erläutert: „Das Profil der Lübecker Kirchenmusikausbildung „Improvisation, Komposition, neue Medien“ (IKN) ist bisher bundesweit einmalig. Bei uns stehen individuelle Profilierung und die Förderung des eigenen kreativen Schaffens im Zentrum.“ Interdisziplinär und projektorientiert angelegt, eröffnet das Lübecker Studium den angehenden Kirchenmusikern neue und kreative Wege für ihre Arbeit in den Kirchen und mit ihren Gemeinden. Nicht nur die staatlichen Musikhochschulen, sondern auch Diözesen und Landeskirchen sind aktiv auf der Suche nach neuen Wegen im Bereich der Kirchenmusik. So haben die Landeskirchen teilweise Parallelstrukturen in Form von Pop-Kirchenmusikschulen gegründet. Nach einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung treten die meisten Menschen aus der katholischen und protestantischen Kirche aus, weil der Gottesdienst keine Relevanz mehr für sie hat. In der intensiven Zusammenarbeit zwischen Geistlichen und Kirchenmusikschaffenden sowie einem Fokus auf aktuelle Musikstile in der Ausbildung sieht Danksagmüller Potenzial für einen Wendepunkt.

Kirchenmusik im Spannungsfeld

„Vergessen wird häufig, dass die Institution Kirche ein Hort der Wissenschaft, der Erkenntnis und der Kultur war und sein sollte“, so Franz Danksagmüller. Die Musik hat dabei eine vermittelnde Funktion. Franz Danksagmüller fordert eine stärkere Fokussierung der Kirchenmusikschaffenden auf die eigene Kreativität und das Einbringen in den Gottesdienst – nicht nur musikalisch, sondern auch thematisch. Dabei kann neben Überlieferung und Improvisation auch Repertoire aus anderen Genres wie Popmusik, Jazz oder Neuer Musik einfließen. In den Dialog mit Theologen, Pastoren und den Menschen in der Gemeinde zu kommen, sieht Danksagmüller dabei als Voraussetzung an.

Nicht immer ist dieser Dialog frei von Spannungen. Franz Danksagmüller erinnert sich an seine Tätigkeit als Domorganist im konservativ geprägten St. Pölten (Österreich): „Ich wurde dort 1999 sowohl als Organist als auch als Komponist angestellt. Es gab wirklich die Forderung: Wir wollen etwas Neues. Dennoch blieb ein Spannungsfeld zwischen progressiven und eher konservativ geprägten Gemeindemitgliedern, die unterschiedliche musikalische Vorstellungen hatten. Einerseits haben wir die altehrwürdigen, schönen Choräle, etwa von Martin Luther, deren Sprache und Botschaft aber in der Gegenwart kaum noch verstanden wird. Auf der anderen Seite gibt es über die Popakademien der Kirchen moderne, aber nicht immer niveauvolle Musik. Wir sehen es als unsere Ambition an der MHL und sogar als unsere Pflicht: Wir machen authentische neue Musik! Und zwar in Zusammenarbeit mit Theologen, Pastoren und vor allem mit den Gemeindemitgliedern. Das ist ein langer Prozess, der nur jeweils an einem Ort mit der jeweiligen Gemeinde entwickelt werden kann, ein Prozess der Verständigung darüber, was zeitgemäß und den Bedürfnissen der Akteure angemessen ist. Es ist aber eine komplexe Aufgabe!“ 

Dialog mit der Gemeinde

Sarah Proske gestaltet als Assistenzorganistin regelmäßig Gottesdienste und Andachtformate in der St. Jakobi Kirche. Sie berichtet: „Ich habe schon öfter aktuelle Musik eingebunden, etwa dadurch, dass ich Lieder mit neuen Texten und Melodien im Gottesdienst einstudiert habe. Bisher habe ich immer gute Erfahrungen damit gemacht. Wenn man eine Einführung gibt und den Dialog sucht, werden solche Alternativen gerne angenommen. Aber man sollte einen konventionellen Gottesdienst nicht total umgestalten oder sehr viel in kurzer Zeit verändern. Vielmehr muss man den Weg mit der Gemeinde gehen und ihr die Möglichkeit geben, sich an gewisse Dinge zu gewöhnen.“ Bei einem Gottesdienst ist für sie relevant, dass die Musik mit dem Wort zu tun hat und sich beides gegenseitig ergänzt und unterstützt.

Für Karin Lorenz ist es wichtig, aktiv zu werden und immer wieder neue Ideen zu präsentieren: „Seit zwei Jahren habe ich eine nebenamtliche Kirchenmusikstelle, dort spiele ich alle zwei Wochen. Ich bemühe mich jedes Mal, etwas Besonderes zu gestalten und in den Austausch mit den Menschen zu kommen. Wenn ich Themen in der Musik aufgreife, die vorher besprochen oder gesungen wurden, und darüber improvisiere, kommt das in der Gemeinde gut an. Für mich ist wichtig, dass ein Gefühl der Gemeinschaft entsteht.“

Um diesen Weg der Verständigung gehen zu können, ist eine Veränderung der traditionellen Kirchenmusikausbildung erforderlich. Die in Lübeck einmalige Profilierung des Studiengangs wirkt sich für die beiden Studentinnen schon jetzt positiv aus: „Durch das IKN-Profil haben wir viel Freiraum im Gestalten und Erschaffen von Musik. Das Netzwerk der MHL, vielfältige Kooperationen mit Institutionen und der Kontakt mit Studierenden aus verschiedenen Fachbereichen ermöglicht es uns, interdisziplinäre Projekte zu verwirklichen“, sagt Sarah Proske.

Zukunftswerkstatt

Um neue Wege für die künftige Ausbildung und Betätigung Kirchenmusikschaffender zu ebnen, veranstaltet die MHL vom 5. bis zum 8. Oktober das Symposium „Kirchen, Kult und Klänge - Eine theologisch-liturgische-kirchenmusikalische Zukunftswerkstatt“. MHL-Professor Franz Danksagmüller, der das Projekt zusammen mit Pastor Dr. Bernd Schwarze leitet, erläutert: „Beim Symposium wollen wir zusammentragen, welche innovativen Konzepte es bisher gibt, eine Netzwerkbildung und eine stärkere Zusammenarbeit zwischen einzelnen Hochschulen ermöglichen und die dringend notwendigen neuen Wege für die Kirchenmusik diskutieren.“  Fachleute aus den Bereichen Kirchenmusik, Theologie und Ausbildung kommen dafür nach Lübeck, um unter anderem in Vorträgen, Konzerten, Workshops, Podiumsdiskussionen und Gesprächsrunden in der MHL und verschiedenen Lübecker Kirchen innovative Konzepte vorzustellen, zu diskutieren und zu entwickeln. Teil des Symposions sind in diesem Jahr die „Kreativtage Kirchenmusik“, mit denen die MHL Einblick in ihre innovative Kirchenmusikausbildung ermöglicht. Das ökumenisch orientierte Symposium „Kirche, Kult und Klänge“ ist eine Initiative der MHL und der Kultur- und Universitätskirche St. Petri in Zusammenarbeit mit St. Jakobi Lübeck, der Kirchenmusikhochschule Regensburg, der Konferenz der Leiterinnen und Leiter der Ausbildungsstätten für Katholische Kirchenmusik in Deutschland (KdL) sowie der Direktorenkonferenz der Evangelischen Kirchenmusik.

Darüber hinaus wird die St. Nikolai Kirche in Hamburg, wo gerade eine Hyperorgel mit digitalen Schnittstellen, Windmanipulation und Schlagwerkregistern installiert wurde, vom 6. bis 12. November zum Ort einer Projektwoche unter dem Motto „Zukunftswerkstatt“. Hier können Studierende in Zusammenarbeit mit Kunstschaffenden verschiedener Fachrichtungen neue Klangwelten ausloten. Mitwirkende sind unter anderem der Tänzer Kenzo Kusuda (Niederlande), die Sängerin Anna-Maria Hefele sowie der Organist und Komponist Dominik Susteck.

Mittelfristig sind auch ein Kompetenzcluster mit einer gemeinsamen Online-Plattform für Lübeck und Hamburg sowie Publikationen und Aufführungen neuer Kompositionen geplant. Die „Zukunftswerkstatt“ in St. Nikolai sehen die Veranstalter als wichtigen Auftakt für dieses große Projekt. „Wir wollen gemeinsam einladen, nie Gedachtes, kaum je Gesagtes und Unerhörtes zu erleben und zu erkunden.“ Besser lässt sich kaum beschreiben, dass die Kirchenmusik an einem Wendepunkt angelangt ist, von dem aus Neues entstehen kann.

Anmerkung:
(*) IKN (Improvisation, Komposition, Neue Medien)

www.mh-luebeck.de
www.kirchen-kult-klaenge.de

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