Staats- und Stadttheater in Deutschland stehen heute unter dem Druck, die gesellschaftliche Relevanz insbesondere ihrer Opernsparte zu betonen und ihre Existenz als mit Abstand kostspieligste Kunstinstitution zu rechtfertigen. In kleineren Städten haben sie immer wieder Kürzungen zu akzeptieren, teilweise werden Häuser zusammengelegt und in steter Regelmäßigkeit auch geschlossen.
Die Ausbildungsstätten, die den Sängernachwuchs betreuen, können vor diesem Umstand nicht die Augen verschließen. Umso dringlicher stellen sich uns Hochschullehrern Fragen nach dem eigenen Selbstverständnis in der Lehre, nach den Zielsetzungen der Ausbildung und nach der Gewichtung der Lehrinhalte.
Wir, als Leitung der Opernklasse der Hochschule für Musik in Dresden, fragen uns, was wir programmatisch erreichen wollen, wenn wir Studierende nach vier beziehungsweise sechs Jahren Ausbildung in das Berufsleben entlassen. Natürlich wollen wir Sängerinnen und Sänger auf ihren Beruf vorbereiten. Im Einzelnen wäre jedoch zu überprüfen, wie spezifisch die Ausbildung auf eine spätere Berufspraxis hin angelegt sein kann oder ob und in welcher Form der Ausbildungsplan nicht auch für andere Überlegungen Platz hat. Warum sollte sich die Dresdner Musikhochschule nicht auch als ein Experimentierfeld verstehen, um hier – auf das Theater bezogen – allgemeinere, ungewohnte und auch überraschende Erfahrungen zu sammeln?
Das zeitgenössische Musiktheater zum Beispiel bietet sich hier an: Neue Notationsformen, andere Gesangstechniken, überhaupt gänzlich andere Anforderungen an die Stimme werden vermittelt und neue dramaturgische Konzepte erarbeitet, die den Menschen und seine Existenz zum Beispiel aus völlig neuartigen Perspektiven zu erfassen suchen.
Ein Projekt, das solchen Ambitionen entspricht, nehmen wir gerade in Angriff. Das Uraufführungsprojekt „Inventarisierung von Erfahrungen“ widmet sich dem Thema der „Erfahrung von Ohnmacht“. Sechs Kompositionsstudierende der Musikhochschule Dresden haben auf der Basis einer Recherche der Performerin Edit Kaldor Partituren geschrieben, die im Sommersemester musikalisch und Wintersemester szenisch erarbeitet werden. Auch die Zusammenführung unterschiedlicher Studiengänge und das wechselseitige Lernen und Befruchten der Studierenden auf Augenhöhe – hierzu zählt auch die Kooperation mit der Bühnenbildklasse der HfBK Dresden – ist ein erwünschter Nebeneffekt.
Im Bereich des gängigen Opern-Repertoires fühlen wir uns aufgefordert, bei den szenischen Erarbeitungen zum einen die Tradition zu kultivieren, zum anderen aus unserer gelebten Gegenwart abgeleitete Fragestellungen an die Werke heranzutragen – auch, um der gegenwärtigen Praxis an den europäischen Opernhäusern Rechnung zu tragen, deren Ehrgeiz es ist, innovative Regiestile zu pflegen. Unsere Inszenierung von Benjamin Brittens „Sommernachtstraum“ (die Premiere fand am 22.04.16 statt, weitere Vorstellungen bis Ende Mai 2016) ist ein Versuch, diesen Ansprüchen gerecht zu werden. Die zunächst vielleicht überraschend wirkende Lesart dieses Werkes stellt einen Bezug zu unserer Gegenwart beziehungsweise zu den 60er Jahren her, der Entstehungszeit des Werkes von Benjamin Britten. Beispielsweise können Studierende hier lernen, nicht nur der durch die Shakespeare-Vorlage vorgegebenen Handlung zu folgen, sondern den unter der Oberfläche verborgenen Konflikten situativ durch die spezifischen Konstellationen der Figuren zueinander auf die Spur zu kommen.
Zusammengefasst erscheint uns an der Ausbildung der Gesangsstudierenden Folgendes wichtig: Wir wollen Sängerpersönlichkeiten heranbilden. Das sängerische Vermögen steht hierbei im Mittelpunkt und ist Voraussetzung für den Beruf. Unmittelbar verknüpft damit ist jedoch das, was die Sängerdarstellerin, den Sängerdarsteller darüber hinaus auszeichnen muss: eine eigene Phantasie, ein entwickeltes Selbstbewusstsein, eine Offenheit gegenüber Innovativem und Fremdem und eine klare Haltung zu den Dingen, die man tut.
Prof. Barbara Beyer, Künstlerische Leiterin der Opernklasse