Dass die professionelle Musikausbildung im deutschsprachigen Raum noch immer größtenteils in den ritualisierten Lehr- und Berufsausübungsparadigmen des 19. und 20. Jahrhunderts verharrt, ist keine neue Diagnose. An Musikhochschulen wird mehr nach innen als nach außen geschaut: In dem durch Hauptfachunterricht und Üben reglementierten Ausbildungsalltag wird ein stark abgegrenztes historisches Repertoire kultiviert, während der sich wandelnde Arbeitsmarkt eher kritisch beäugt denn als Herausforderung begriffen wird.
Institutionen und Innovationen sind sich in der Musik häufig wesensfremd; die Unbefangenheit und Unbekümmertheit, die es braucht, um neue Wege zu beschreiten, finden sich vorrangig in der freien Szene und weniger an den etablierten, staatlich geförderten Stätten des Musik- und Musikausbildungswesens. Alle diese Probleme sind längst bekannt – und doch braucht es mehr als Erkenntnis und guten Willen, um Studieninhalte und Ausbildungsziele im Sinne einer zeitgemäßen Neuausrichtung zu modifizieren. Ein echter Lichtblick ist in diesem Zusammenhang der im Dezember 2017 erstmalig veranstaltete, von der Universität der Künste Berlin in Partnerschaft mit dem Podium Festival Esslingen durchgeführte Hochschulwettbewerb „D-bü“. Das Format ermutigt ausdrücklich dazu, in Programmplanung und Konzertdramaturgie weniger ausgetretene Pfade zu beschreiten und die Inszenierung musikalischer Darbietungen neu zu denken.
Die aus 30 Bewerbungen ausgewählten acht Ensembles, die jeweils von einer der deutschen Musikhochschulen entsandt wurden, präsentierten ihre Beiträge in separaten Veranstaltungen, in unterschiedlichen Räumen und damit unter kaum vergleichbaren Bedingungen. Dies war aber auch keineswegs intendiert: das Anliegen von D-bü ist nicht die direkte Gegenüberstellung von Konkurrenten, sondern die Förderung musikalisch-performativer Innovation aus möglichst verschiedenen Bereichen und Stilistiken. Dementsprechend wurden drei gleichwertige Preise in den Kategorien Originalität, Wiederaufführbarkeit und Publikumserfolg vergeben. Vom traditionellen Wettbewerbsgeschehen mit Pflichtstücken, Schaulaufen auf der immer gleichen Bühne, Lehrer-Schüler-Geklüngel und Bewertungsskandalen wurde sich damit verabschiedet. Um eine Beurteilung auf Augenhöhe zu gewährleisten, wurde eine aus Studierenden der nicht im Wettbewerb vertretenen Hochschulen bestehende Jury rekrutiert. Die Auswahl der Aufführungsorte war auf die jeweiligen Darbietungen abgestimmt – dabei wurden sowohl etablierte Spielstätten wie das Radialsystem V und das Berliner Konzerthaus bedient, andererseits auch Räumlichkeiten in den Blick gerückt, an denen sonst eher keine Live-Musik erklingt, wie das Pergamonmuseum, der Hamburger Bahnhof und der Club Gretchen. Auf diese Weise konnten Ideen, Kompositionen, Instrumentarien und Räume jeweils auf individuelle Weise zusammenwirken.
Unter den Beiträgen fanden sich klassische Crossover-Konzepte wie das Projekt „Sampling Baroque“ des Ensemble Musica Sequenza, das Musik von Händel mit Hilfe von Live-Elektronik in einen tanzbaren Clubmix transformierte; sodann Beiträge an der Schnittstelle zwischen zeitgenössischer Musik und Bühnenperformance, wie das Revolutions-Musiktheaterstück „Madame Lenin“ des Freiburger Netzwerks zeug und quer oder der inszenierte Liederzyklus „Gesänge des Daseins“ des MA.NM Ensembles; und schließlich die innovative Performance des Projekts Open Source Guitars, das verschiedenartigste Gitarrenklänge in Szene setzte. Etwas näher am traditionellen Konzertformat präsentierte sich der Beitrag des New Music Ensemble Weimar, der eine Aufführung von Steve Reichs Quartett Different Trains mit ausgefeilter Videokunst kombinierte. Die drei Projekte, welche am 20. Dezember 2017 im Rahmen der Abschlussveranstaltung im Pierre Boulez Saal mit Preisen ausgezeichnet wurden, seien hier etwas eingehender vorgestellt – nicht ohne die exzellente Leistung der Podium Festival Strings, die anlässlich der Preisverleihung Werke von Strauss und Reich zur Aufführung brachten, zu würdigen.
Originalität, Wiederaufführbarkeit und Publikumserfolg
Den Preis für Originalität erhielt das Verworner Krause Kammerorchester (VKKO), eine Formation aus München um die Komponisten und Ensembleleiter Christopher Verworner und Claas Krause, die im Radialsystem einen Gig mit dem Titel „Basic Soul Encoder“ präsentierte. Hier wurden Gestaltungsprinzipien der elektronischen Musik gleichsam zurückübertragen auf einen 16-köpfigen Klangkörper, bestehend aus einer klassischen Bläsersektion, einem Streichquartett, ausgiebigem Schlagwerk und Keyboards. Durch die Einbeziehung eines Gesangsparts, dargeboten von der famosen Sängerin Pia Allgaier waren viele Stücke im weitesten Sinne Lieder; die auf die Klänge abgestimmten Filmprojektionen steuerten zudem eine visuelle Komponente bei. Über einer fast durchgängig pumpenden Bassdrum entstand ein variantenreiches, in der Dynamik stellenweise drastisches, im Ganzen aber absolut hypnotisches Abendprogramm, das Elemente aus Techno, Drum’n’Bass, Trance, House, Funk, Popballade, Minimal Music und Orchesterlied in sich vereinte, ohne die blockhafte und repetitive Anlage der elektronischen Stilistiken allzu sehr dominieren zu lassen. Dass die beiden Leiter mit ihrer derwischartigen Pantomime die Rolle des Dirigenten neu interpretierten, sich mit verbalen Äußerungen hingegen fast gänzlich zurückhielten, trug ebenfalls zum Spannungsbogen bei – ein 80-minütiger Vollrausch ohne Pause.
Der Preis für Publikumserfolg ging an das Projekt LouLou, bestehend aus der Sopranistin Lisa Ströckens und dem Kontrabassisten Stephan Goldbach. Der Auftritt des Saarbrücker Duos im Musikclub des Konzerthauses stand unter dem Motto „LouLou und die Heerscharen der Verfluchten“, wobei Alban Bergs Opernfigur sowohl für den Namen des Duos als auch für ein assoziationsreiches Programm Pate stand. Texte von Frank Wedekind und Gottfried Benn bildeten den Ausgangspunkt für einen Abend, der zwischen Theatermonolog, monodischer Improvisation, expressionistischer Arie und auskomponiertem Jazzsong changierte. Musikalisch schlugen LouLou einen Bogen von Purcell und Bach über Berg bis hin zu Björk; zudem flossen auch Kompositionen des Duos, nach eigenem Bekunden von Bands wie Massive Attack und Portishead inspiriert, in das vollständig durchinszenierte Programm ein. Das Publikum zeigte sich mit dieser reichlich disparaten Vielfalt an Einflüssen keineswegs überfordert, sondern würdigte das übergeordnete Narrativ, das große Suggestionskraft entfaltete, mit enthusiastischen Beifallsbekundungen.
Die Formation Stegreif.Chamber, ein Ableger des mittlerweile überregional bekannten Berliner Stegreif.Orchesters, und ihr nächtliches Wandelkonzert im Pergamonmuseum wurden mit dem Preis für Wiederaufführbarkeit ausgezeichnet. Die hohen Hallen des Museums mit ihrer kirchenähnlichen Akustik wurden zum Schauplatz für eine zwar im Detail improvisierte, im Ganzen jedoch stringent geplante Dramaturgie, bei der das Publikum sich mit dem Ensemble von einem Aufführungsplatz zum nächsten bewegte. Die neun Musiker/-innen und ihr Spiritus rector, der Hornist Juri de Marco, spalteten sich im Verlauf in mehrere kleinere Kammerensembles auf, um sich erst am Schluss zum Nonett zusammenzufinden. Stilistisch war hier alles möglich: ein Renaissancetanz ging in einen Folkpop-Song über, Purcells Lamento der Dido mutierte zu einem Saxophon-Solo, und eine Chorkantilene wurde in einen live produzierten Trance-Track übergeblendet. Rezitation, Tanz und die sphärische, an das Markttor von Milet projizierte Lichtkunst des Kollektivs Xenorama trugen zum interdisziplinären Gesamtbild bei. Das namensgebende Konzept des Ensembles wurde für dieses Konzertprojekt zwar insofern verändert, als dass Notenpulte verwendet wurden und durchaus nicht alles aus dem Moment geboren war. Aus der Verpflichtung zur Anbindung an eine Musikhochschule resultierte zudem eine deutlich veränderte Besetzung – es mussten Studierende der Hochschule für Musik und Theater Leipzig einbezogen werden, die sonst nicht mit dem Stegreif.Orchester musizieren, um für diese Institution antreten können. Trotz dieser konzeptionellen Kompromisse ergab sich im Zusammenwirken aller beschriebenen Elemente der wohl faszinierendste und innovativste Beitrag des Wettbewerbs.
Perspektiven
Die nächste Runde von D-bü ist für 2019 geplant. Sofern sich die Finanzierung und die strukturellen Rahmenbedingungen verstetigen lassen, sollte überlegt werden, ob das Konzept auch für das nicht institutionsgebundene Musizieren geöffnet oder zumindest eine Kategorie für bereits bestehende Performance-Formate der freien Szene eingeführt werden kann. Ein Wettstreit für Musikstudierende existiert ja bereits in Gestalt des Felix-Mendelssohn-Bartholdy-Hochschulwettbewerbs, so dass die institutionelle Anbindung der teilnehmenden Ensembles für D-bü eigentlich keinen Mehrwert ausmacht. Würde man über die Musikhochschulen hinausgehen, könnten – allein in Berlin – Acts vom Kaliber des Andromeda Mega Express Orchestra, des Berliner Lautsprecherorchesters, des Composers Orchestra Berlin oder auch überregionale Formate wie der Composer Slam vom Wettbewerb profitieren.
Vorauswahlen wären bezogen auf Städte oder Regionen möglich; nötigenfalls könnte eine Altersgrenze eingeführt werden, um sich auch weiterhin gezielt an den musikalischen Nachwuchs zu richten. Aber auch nach Maßgabe der bisherigen Bedingungen darf der erste Durchgang für alle Beteiligten als Erfolg gewertet werden, genauso wie die hervorragende Öffentlichkeitsarbeit ein gesondertes Lob verdient. Gleichwohl: Es bleibt abzuwarten, ob das Konzept eine Vorbildwirkung für den Musikbetrieb entfalten und auf diese Weise in die beteiligten Hochschulen zurückwirken wird, wie es der Juryvorsitzende Martin Tröndle und der künstlerische Leiter Sebastian Nordmann sich erhoffen; dies werden die nächsten Jahre zeigen. Vorerst bleibt der Eindruck zu würdigen, dass sich in der Musikhochschullandschaft etwas bewegt und auch dort ein Nachdenken über die Ästhetik des Konzerts als Angelpunkt der Musikdarbietung begonnen zu haben scheint – und das ist sehr wohltuend.