Der renommierte Museumsdirektor, Kulturpublizist und frühere Berliner Kultursenator Prof. Dr. Christoph Stölzl wurde im Jahr 2010 in der Nachfolge von Prof. Rolf-Dieter Arens zum Präsidenten der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar gewählt. Zwölf Jahre lang stand er als Primus inter pares an der Spitze des traditionsreichen Hauses, leitete es auf Basis seiner jahrzehntelangen Erfahrungen in Kulturbetrieben mit ruhiger Hand. Stölzl ist ein interdisziplinärer Denker, weshalb er als bundesweit gefragter Gesprächspartner ein Stammgast auf wichtigen Podien und im überregionalen Rundfunk war. Jan Kreyßig sprach mit Christoph Stölzl über seine Präsidentschaft, die am 30. Juni 2022 endet.
Herr Prof. Stölzl, was waren die schönsten Momente Ihrer beiden Amtszeiten?
Wieviel Platz haben wir? Der Kalender meiner Weimarer Zeit ist übersät mit Augenblicken des Glücks, ob eine Dvorák-Cello-Phrase durch die Wand meines Büros dringt oder ob man in der Weimarhalle nach einem Konzert des Hochschulorchesters den Beifall aufbranden hört und glücklich ist im „Wir!“ mit den Glücklichen oben auf dem Podium. Und besonders dann, wenn sich das „A star is born“-Phänomen gezeigt hat! Dieser Zauber bei einem Stipendiums-Vorspiel oder einem Klassenabend, wenn das vermeintlich Bekannte plötzlich ganz neu klingt, weil eine junge Persönlichkeit uns in den Bann ihrer Interpretation schlägt. Ich erinnere mich an die erste Kultur-Soiree von Bundespräsident Joachim Gauck, die wir im Schloss Bellevue gestalten durften. Da spielte Mariam Batsashvili, unsere damalige georgische Studentin und inzwischen weltweit gefragte Pianistin eine Lisztsche Rhapsodie. Noch bevor der Beifall begann, sprang Joachim Gauck neben mir spontan auf, ging zum Podium und ergriff Mariams Hände. Alle im Saal fühlten: Recht hat er! Denn sie hatte einfach toll gespielt, war vollkommen bei sich gewesen, entrückt, ohne jedes Lampenfieber. Dabei wäre selbst ein Routinier dort im Angesicht des Bundespräsidenten vermutlich etwas nervös gewesen. Zwölf Jahre sind eine lange Zeit, und ich habe viele solcher Momente erleben dürfen, auf Tournee mit unserem Hochschulorchester, bei einer Langen Nacht der Musik im Fürstenhaus oder bei den Opern oben im Studiotheater des Belvedere. Zeuge sein zu dürfen, wenn jahrelanger Fleiß, jahrelange Hingabe an die Musik zum Ereignis im Leben unserer Studierenden wird – darin besteht das Glück eines Hochschulleiters.
Und auf was hätten Sie gern verzichtet?
Im Gegensatz zu vielen Intellektuellen fand ich Verwalten immer interessant; es ist nicht nur ein „notwendiges Übel“, sondern ein spannendes Dolmetschen zwischen Leben und Paragraphen. Doch Verwaltungspflichten mehren sich inzwischen nicht nur in Hochschulleitungen, die dafür da sind, sondern tagtäglich auch für Musiker, Wissenschaftler und Pädagogen, die sich das nicht als Lebensziel erwählt haben. Es geht um Ziel- und Leistungsverträge, um immer kompliziertere Beschlussrituale mit Beauftragten, um Akkreditierungsvorgänge mit hunderten von auszufüllenden Checklisten, da türmt sich Schicht um Schicht von – sicher gut gemeinten, der Qualitätsverbesserung und der Fundamentaldemokratisierung gewidmeten – Aktivitäten auf unser aller Zeitbudget. Ich wünschte mir, die Hochschulpolitik würde sich einmal ein Durchatmen gönnen, einen „Kassensturz“ machen mit dem Ziel einer illusionslosen Bilanz: Haben wir noch genug Zeit für den künstlerischen und wissenschaftlichen Kern unserer Aufgabe? Ginge es auch einfacher?
Es gab zu Beginn Ihrer ersten Amtszeit einen heftigen Streit ums Geld mit dem damaligen Kultusminister Christoph Matschie …
Das Land Thüringen hatte am Beginn des letzten Jahrzehnts ein massives Sparprogramm für den gesamten Landeshaushalt verkündet, damals noch unter Ministerpräsidentin Lieberknecht. Da ist der HfM ein striktes Schlankheitsprogramm verordnet worden, bei dem wir selbst entscheiden mussten, wie wir mit viel weniger Geld auskommen wollen. Das war eine mehrjährige, für alle sehr schmerzliche Aufgabe. Es ging unter anderem auch um die Zuordnung von Pensionszahlungen zu unserem Haushalt. Wir haben uns schlecht behandelt gefühlt und den damaligen Hochschulminister Christoph Matschie zu einem humorvollen Protestkonzert eingeladen. Er fand es leider nicht lustig, sondern verordnete ein (teures) Evaluierungsprogramm. Ergebnis: Alles hatte seine Richtigkeit bei uns. Am Ende nahm das Land unsere Kritik positiv auf.
Auf welche bedeutenden Neuberufungen blicken Sie zurück?
Viele! Es ist hier nicht der Platz für Monografien der Neuen, die alle zu den schönsten Hoffnungen Anlass geben. Ich habe mich persönlich sehr für die Berufung von Frauen engagiert, mit intensiven Gesprächen mit den Verantwortlichen, das Thema ganz ernst zu nehmen. Bei den Musikstudierenden sind die Frauen in der Mehrzahl, seit Jahrzehnten, und es gibt überhaupt keinen Grund, warum das bei den Lehrenden anders sein sollte. Ganz persönlich beteiligt war ich bei der Schaffung des Stiftungslehrstuhls für jüdische Musik. Ich hatte das sprunghafte Wachsen der jüdischen Gemeinden in Deutschland nach 1989 mit Anteilnahme verfolgt, auch die daraus folgende Rabbiner- und Kantorenausbildung in Potsdam. Meine Idee war es, die Potsdamer Kantorenausbildung nach Weimar zu ziehen und unserer Gesangs- und Musikerausbildung anzuschließen. Das ist dann wegen religionsrechtlicher Probleme nicht schnell zu machen gewesen. Daraufhin haben wir uns entschlossen, die neue Stiftungsprofessur zu teilen, mit der Forschung in Weimar und der praktischen Kantorenausbildung am Abraham-Geiger-Kolleg in Potsdam. Das Interesse an der jüdischen Musikkultur passte gut in die schon bestehende Neigung der HfM zur transkulturellen Musikforschung – bei der wir ja auch auf Franz Liszts Spuren unterwegs sind.
Stichwort jüdische Musikkultur: Es gab auch viele Projekte mit Israel …
Mein Vorgänger Rolf-Dieter Arens hatte die Idee, die nachfolgende Hochschulleitung, besonders Vizepräsident Elmar Fulda, hat sie dann verwirklicht. Bei mir war die Beziehung zu Israel biographisch stark verankert. Auch zum modernen Israel gab es enge Familienbeziehungen: meine Bauhaus-Tante Gunta Stölzl war die erste Frau des „Urvaters“ der israelischen Architektur, Arieh Sharon. Ich habe deshalb dort auch Verwandtschaft, eine Cousine und deren Kinder. Ich habe mich sehr über die Idee des Young Philharmonic Orchestra Jerusalem Weimar gefreut, weil ich fand, dass der Blick in den Weltkultur-Hotspot Israel unseren Studierenden kulturhistorischen Weitblick vermitteln würde. Und so war es dann auch: Die Begegnungen mit Israel und den israelischen Studierenden waren Sternstunden, die niemand vergisst. Ich erinnere mich an einen Weihnachtsabend in einem Jerusalemer Studentenheim: Nach einem heftigen Disput über das Koscher-Gebot des Küchenchefs durften wir dann doch Kerzen anzünden und Punsch machen, und haben ein paar Choräle aus Bachs Weihnachtsoratorium gespielt und gesungen. Am Tag zuvor waren wir in Bethlehem gewesen, dem legendären Symbolort der Weltreligion Christentum, das wiederum eine Hauptquelle der europäischen Musikentwicklung gewesen ist. „Ich steh an Deiner Krippen hier“ in einer koscheren Mensa war ein ebenso eindringliches Erlebnis wie später die Konzerte, die wir im Kibbuz des Staatsgründers Ben Gurion am Rand der Negev-Wüste gaben.