Lieder afroamerikanischer Komponist*innen konnte man auf einem Symposium der Hugo-Wolf-Akademie am ersten Novemberwochenende in Stuttgart kennenlernen, dazu Hintergründe und Diskurse um bislang marginalisierte Musik.
„Decentering Whiteness in Vocal Music“ – der englische Titel des Symposiums ist passend, denn er ist breit genug für all das, was an diesen zwei Tagen in Stuttgart gesungen, besprochen und diskutiert wird. Zum einen geht es darum, afroamerikanische Komponist*innen und ihre Lieder bekannter zu machen. Zum anderen wird die Gattung Kunstlied generell hinterfragt. Andreas Meyer von der HMDK Stuttgart lädt in seiner Begrüßung zu einer „Selbstbefragung der Liedkultur und -geschichte“ ein. Einen ersten Schritt dazu unternimmt Cornelia Bartsch. Sie findet es wichtig, sich vom Geniekult zu lösen und stattdessen das Augenmerk auf musikalische Praxis zu legen: Wer führt Musik auf? In welchen Kontexten? Wie wird sie rezipiert und welche soziale Funktion erfüllt sie?
Diesen breiten Zugang zu Musik wählt auch die Forschungsgruppe der University of Michigan, die nach Stuttgart angereist ist. In dem Projekt „Singing Justice“ ist seit 2020 ein interdisziplinäres Team damit beauftragt, afroamerikanische Stimmen im Lied wiederzuentdecken und mit Publikationen und Lehrmaterial bekannter zu machen. Das Forschungsteam kommt aus den Fächern Gesang, Musikwissenschaften, Geschichte und anderen. Die Brücke nach Deutschland schlagen Thomas Hampson und Christie Finn mit der Hampsong Foundation. Die Forschungsgruppe hebt einen Schatz, ein riesiges kulturelles Erbe. Naomi André spricht in ihrem Vortrag von einer „Kultur im Schatten“: Parallel zu den weißen Räumen klassischer Musik gab es in den USA im ausgehenden 19. und 20. Jahrhundert Räume Schwarzer Menschen, in denen ebenso Kunstlieder, Sinfonien und Opern geschrieben und aufgeführt wurden. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahmen Schwarze klassisch ausgebildete Komponist*innen Musiktraditionen wie Spiritual und Gospel in ihre Werke mit auf, um diese weiterzuentwickeln und in andere Kulturräume wie den klassischen Konzertsaal einzuführen.
Spiritual und Gospel
In einer beeindruckenden Mischung aus Recital und wissenschaftlichem Vortrag erklärt Tenor Tyrese Byrd den Unterschied zwischen Spiritual und Gospel. Spirituals sind ursprünglich Gesänge versklavter Menschen in den USA. Sie sind meist unbegleitet und oft gekenntzeichnet durch Call and Response-Phrasen, mit denen eine Gruppe interagiert. Außerdem haben sie oft einen starken Rhythmus, der zum Beispiel den Takt für körperliche Arbeit vorgab. In den meist biblischen Texten stecken oft Anspielungen auf die Unterdrückung in den Südstaaten und das „gelobte Land“ in den Nordstaaten. Komponisten wie Henry Thacker Burleigh und Hall Johnson erhoben dieses Liedgut zu „Art Songs“, indem sie Klavierbegleitungen hinzufügten und die Call und Response- Gesänge für solistischen Gesang arrangierten. Als Beispiel singt Byrd „My Soul’s Been Anchored in the Lord“, arrangiert von Florence Price.
Gospel, erklärt Byrd, war ursprünglich eine Fusion aus Blues und geistlichen Texten. Hier geht es darum, virtuose Gesangskünste zu zeigen. Berühmt wurde mit Gospels zum Beispiel die Sängerin Mahalia Jackson (1911–1972). Eine wichtige Rolle für die Verbreitung des Repertoires spielte der Sänger und Pianist Thomas A. Dorsey (1899-1993), der seine eigenen Gospels notierte, mit der Sängerin Sallie Martin (1895-1988) in Kirchen tourte und dort die Noten verkaufte. So konnten die Stücke direkt von den Gemeinden übernommen werden. Seit den Anfängen sei Gospel ein „Schwamm für populäre Musik“, so Tyrese Byrd, der immer neue Stilistiken aufgesaugt habe. Byrd demonstriert, dass ein Lied auch gleichzeitig Spiritual und Gospel sein kann mit „I Don’t Feel No Ways Tired“ in einem „Concert Spiritual“-Arrangement von Jacqueline B. Hairston (*1932). In diesem traumhaft schönen Stück kann der Sänger mit beeindruckender Vielfalt in Gesangstechniken und Ausdruck glänzen. Er selbst wuchs in South Carolina in einer Gemeinde auf, in der Spirituals und Gospels nebeneinander gesungen wurden, und studiert aktuell Gesang bei Louise Toppin an der University of Michigan.
Das Stereotyp vom Autodidakten
Zeitgenössische Art Songs präsentiert die Mezzosopranistin Samantha Rose Williams in ihrem Liederzyklus „American Patriots“. Um in der Musik aktuelle gesellschaftliche Fragen aufzugreifen, führte sie Interviews mit Menschen aus verschiedenen marginalisierten Gruppen: aus der Schwarzen Community, aus indigenen Communities und aus der weißen Working Class. Texte aus diesen Interviews ließ sie von Komponist*innen aus der jeweiligen Community vertonen. So basiert etwa das Lied „Homecoming“ von Regina Baiocchi (*1956) auf den Zitaten eines Schwarzen Veteranen, der damit hadert, ob er sich Patriot nennen will, in einem Land, in dem Schwarze Veteranen in Uniform umgebracht werden.
In einem Poduimsgespräch über das Aktivistische an Musik geht es dann auch um Jazz. Traci Lombre hebt hervor, dass man nicht dieselbe verengte Sicht auf Genies aus der Klassik auf den Jazz übertragen solle. Dabei ginge die Kultur verloren, die in den Räumen entsteht, in denen die Musik gemacht wird, und die soziale Funktion, die sie erfüllt hat. Auch wird auf dem Panel der Stereotyp vom Autodidakten im Jazz kritisiert. Wie kann man beweisen, dass jemand wirklich Autodidakt war? Dass er oder sie nicht doch von Eltern, Bekannten, in der Gemeinde oder in anderen Räumen Handwerk und Theorie gelernt hat? Daran forscht der Musiktheoretiker Philipp Teriete an der HfM Freiburg. In dem Zusammenhang wird das Erbe und die wichtige Rolle der HBCUs angesprochen – Colleges und Universitäten in den Südstaaten, die nach dem Sezessionskrieg für die Bildung afroamerikanischer Studierender gegründet wurden. Die Forschungsgruppe aus Michigan greift „Black Song“ weit, beschäftigt sich mit Jazz, Kunstlied, Opernarien, Spiritual und Gospel gleichermaßen. Die soziale Dimension von Musik sei immer interessant aber würde doch oft nur oberflächlich behandelt. Die Auseinandersetzung mit Black Song aber zwinge einen dazu, genauer hinzuschauen: In welchem Kontext ist ein Lied entstanden? Was verbirgt sich hinter dem Text? Aus welcher Position singt das Subjekt?
Wer darf das singen?
Und das bringt einen zu einer weiteren wichtigen Frage unserer Zeit – aus Umfragen und Gesprächen mit Studierenden wissen die Gesangsprofessorinnen Caroline Helton und Louise Toppin, dass sich weiße Studierende die Frage stellen: Darf ich diese Musik überhaupt singen? Wäre das nicht kulturelle Aneignung? Diesem Zweifel widmet sich bei der Konferenz deshalb auch ein Podiumsgespräch. Caroline Helton argumentiert, im Liedgesang sei es üblich und elementar, dass man eine Rolle verkörpert. Oft nehme man sogar mehrere Rollen in einem Lied oder Zyklus ein, und niemand erwarte, dass man so aussieht wie die gesungenen Rollen. Man darf nicht nur, man soll Lieder aus möglichst vielen anderen Positionen singen, denn dadurch lerne man sich in diese hineinzuversetzen. Für Louise Toppin geht es vor allem um Respekt und gründliche Recherche. Wenn einem Spiritual oder einem Kunstlied von Florence Price der gleiche Respekt entgegengebracht wird wie einem Lied von Gustav Mahler, dann sei es jedem freigestellt, das Repertoire zu singen. Dieser Respekt zeige sich zum Beispiel durch Recherchen zum Hintergrund und Kontext oder genaue Arbeit an der Aussprache. Konsequenterweise singen im großen Konzert in Stuttgart nicht nur Schwarze Solist*innen sondern auch Carolina Ullrich und Theodore Platt, die sich bei der Einstudierung Rat aus Michigan eingeholt hatten. Der Tenor Ray Wade Jr., der seit über zwanzig Jahren in Opernhäusern in Deutschland singt, hofft, dass sich die Lehrbeauftragten an Hochschulen entsprechend weiterbilden, sodass sie in Zukunft auch von Studierenden verlangen können „denselben Respekt wie der ‚Dichterliebe‘ auch einem Lied von Burleigh entgegenzubringen“.
- Eine digitale Fortsetzung der Singing Justice Conference gibt es am 23. Februar 2023 ab 19 Uhr auf www.liedbuehne.de