Unser Fotograf mag sich ähnlich fasziniert gefühlt haben wie der Studiosus in Alain René Lesages Roman „Der hinkende Teufel“. Von der Dachkonstruktion der Halle 3.1. herab sah er mitten ins Innere der Verlagsstände hinein, wie man in das „Innere einer Pastete hinein sieht, von der die Decke abgenommen worden ist“. Sicher eine außergewöhnliche Perspektive – zu einem wirklichen Blick hinter die Kulissen des Musikgeschäfts fehlen aber noch einige Informationen. Obwohl sie nicht den Lärmpegel anderer Hallen erreicht, ist die Halle 3.1. das Herzstück der Musikmesse – hier wird nicht mit Instrumenten oder Equipment gehandelt, sondern mit der Musik selbst. Die wichtigsten deutschen und internationalen Verlage stellen hier ihre Neuheiten aus. Die Erfolgsmeldungen der Messe „mehr Aussteller und mehr Besucher als je zuvor“ konnten aber nicht verdecken, dass die klassischen Verlage einen Strukturwandel im Musikleben verspüren.
Die „ruhige“ Halle 3.1. ist umgeben von einem wahrhaft kakofonischen Getöse: Schlagzeuge und elektronische Instrumente vieler Art sind der eigentliche Umsatzbringer der Messe. Sie kündigen eine neue Epoche in der Musik an. So wie der Entwicklungsgang bestimmter Kulturen sich anhand überlieferter Keramiken und Scherben rekonstruieren lässt, so lässt sich an der Entwicklungsgeschichte der Instrumente eine Geschichte der musikalischen Sprache schreiben. Violine, Klavier und Oboe sind ausgereift. Sie beengen oft genug die Komponisten Neuer Musik in ihrem Erfindertum, und sie spielen im großen Bereich der Unterhaltungskunst oder der Filmmusik nur noch eine Nebenrolle. An dieser offensichtlichen Wechselbeziehung zwischen Instrument und musikalischer Erfindung kann man ablesen, in welchem Umbruch unsere Musikkultur sich heute befindet.
Dieser hat Konsequenzen nicht nur für den Musikmarkt, sondern auch im Bildungsbereich. Im Wettkampf um Kunden, Marktanteile, Fördermittel und vor allem um den musikalischen Nachwuchs, der Jahr für Jahr stärker an andere Freizeitbeschäftigungen verloren geht, hat man in den vergangenen Jahren häufig Ergebnisse wissenschaftlicher Studien zur Legitimation und Argumentation herangezogen: Musik verbessert das Sozialverhalten, Musik erhöht den Intelligenzquotienten und hat bessere Schulleistungen zur Folge, um nur die wichtigsten zu nennen.
Eine neue Expertise des Bundesministeriums für Bildung und Forschung mit dem Titel „Wie schlau macht Mozart wirklich“ kam wenige Tage nach der Messe heraus und fasst den heutigen Forschungsstand zusammen: Der Konsum von Musik macht nicht schlauer – bestenfalls hebt sich durch den Genuss von Musik die Stimmung und damit auch die Leistungsbereitschaft. Aktives Musizieren kann die Intelligenz messbar steigern, wenn auch nur leicht (mehr dazu auf Seite 10
Musik erweist sich also nicht als schneller Königsweg zur Verbesserung kognitiver Fähigkeiten. Nicht nur die Aktion des Dachverbands Musikwirtschaft und Veranstaltungstechnik „Intelligent mit Musik“ ist in die Bastian-Falle geraten. Auch die wenigen verbleibenden Musiklehrer an Schulen können ab sofort mit dem Thema Musik und Intelligenz, oder Musik und Transferleistungen nur noch bedingt in bildungspolitischen Diskussionen oder im innerschulischen Wettbewerb bei ihren Kollegen von den Versetzungsfächern punkten.
Eine weitere Studie gilt es vorzustellen: Das Institut für musikpädagogische Forschung der Hochschule für Musik und Theater Hannover stellte sich die Aufgabe, gültige Informationen über die Frage nach der Studienmotivation von Studierenden der Musikerziehung zu erhalten. Die von der Stiftung „100 Jahre Yamaha e.V.“ unterstützte Studie sollte dabei Material für eine „eventuelle Neuvermessung“ der Studiengänge Musikerziehung liefern (siehe unser Interview mit den Initiatoren Hans Bäßler und Asmus Hintz auf Seite 11
Die Ergebnisse sind ernüchternd: So wertig die künstlerische Ausbildung an Musikhochschulen im internationalen Vergleich auch ausfällt, die pädagogischen Fächer gelten unter den Studenten nach wie vor als zweitrangig. Für das Gros der Musikstudenten steht die pädagogische Ausrichtung bei ihrer Studienwahl nicht im Vordergrund, auch wenn sie sich für Instrumental- oder Gesangspädagogik eingeschrieben haben. So ergab die Hannoveraner Studie, dass es kaum Interesse für Praktika im musikpädagogischen Bereich an Schulen gibt. Die Hochschulausbildung ist mit ihrem Grundkonzept Künstlerreife, Musikerziehung und Schulmusik immer weniger auf einen veränderten Arbeitsmarkt ausgerichtet.
Hochschulen haben nicht nur die Aufgabe, für einen Markt auszubilden. Sie haben auch einen gesellschaftlichen Auftrag: Forschung und künstlerische Ausrichtung. Dennoch müssen sie sich die Frage gefallen lassen, ob sie im pädagogischen Bereich nicht an der Realität vorbei ausbilden. Das ist vor allem im Hinblick auf das neue Hochschulfreiheitsgesetz, durch das Universitäten und Fachhochschulen mehr Autonomie erhalten, und die Bologna-Umsetzung an den Musikhochschulen von Bedeutung. Die einzelnen Institute suchen nach neuen Profilen und die Folge davon ist, dass einige Musikhochschulen sogar darüber nachdenken, keinen eigenen pädagogischen Bachelor-Studiengang einzurichten. Vor dem Hintergrund, dass von Jahr zu Jahr immer mehr Orchestermusiker und Sänger für einen immer kleiner werdenden Markt ausgebildet werden und dass Musikpädagogen und Musikvermittler in vielen Bereichen Mangelware sind, ist das bedenklich.
Vor welchen unerwarteten Problemen die Musikhochschulen bei der Umsetzung der Bolognareform stehen, schildert anschaulich ein Interview mit Martin Pfeffer, Vorsitzender der Hochschulrektorenkonferenz, in dem dieser Ausgabe beiliegenden Hochschulmagazin. Anfangs mit Begeisterung begrüßt, macht sich Ernüchterung darüber breit, was die Vorteile einer Modularisierung von Studieninhalten sein könnten. Inzwischen hinkt man bei der Bologna-Umsetzung deutlich den Universitäten hinterher. Kunst und Musik lassen sich nicht so einfach modularisieren und standardisieren wie wissenschaftliche Fächer. Ein Cellist hat eben keine 40-Stundenwoche, wenn er sein Repertoire während sechs Semester Studium zufriedenstellend erarbeiten will. Das Meister-Schüler-Lehrprinzip hat weniger mit Wissensvermittlung als mit einem Reifungsprozess zu tun.
Natürlich gibt es bundesweit auch Reformansätze: viele Hochschulen stellen sich dem Wettbewerb untereinander, gründen neue Studiengänge oder exportieren ihr Know how direkt in die Bedarfsländer, wie etwa die Musikhochschule „Franz Liszt“ in Weimar, die vor wenigen Tagen ein Verbindungsbüro in Peking eröffnet hat: deutscher Spitzen-Musikexport als ein noch einmaliges und dem Anschein nach erfolgreiches Konzept einer Kunsthochschulprofilierung.
Aus den Konservatorien des 19. Jahrhunderts entstanden, sind die Musikhochschulen also durchaus bereit, nicht länger nur Musiktradition zu konservieren, sondern – bei Weimar im wahrsten Wortsinn – ins Neuland aufzubrechen. Musikhochschulen sind Laboratorien geworden, auch wenn vereinzelt Komponisten sich einsam fühlen, unter den vielen fleißigen Artisten, deren höchstes Ziel es ist, die Kunst der vergangenen Jahrhunderte zu reproduzieren.
Von der Ausstrahlung der Musikhochschulen in die bundesdeutsche Bildungslandschaft wird es maßgeblich abhängen, welche Gewichtung Musikunterricht in Zukunft in unserer Gesellschaft bekommt. Auch wenn die kognitiven Effekte einer musikalischen Ausbildung erwiesenermaßen gering sind, so ist Musik als Lebensmittel nach wie vor unbestritten. Musik machen kann Selbstwertgefühl vermitteln, es kann Gruppen synchronisieren, es wirkt immens in die sozialen und emotionalen Bereiche des Menschen. Musik ist bei allen Wandlungen, die sie erlebt, für viele Menschen nötig wie die Luft zum Atmen. Wie Luft, Wasser oder Energie gehört auch das Musische zur Daseinsfürsorge. Man muss sich über die Wege dahin streiten (die nmz bietet weiterhin das Forum dazu), nicht aber über die unbestrittene Aufgabe der Gesellschaft, dem Wollen und Können junger Instrumentalisten und Sänger auch die Möglichkeit zum Tun anzubieten.