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Berliner Philharmoniker in New York

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Für ihre Jugend-, Ausbildungs- und Zukunftsprogramme wurden die Philharmoniker am Samstag in New Yorker von der UNICEF als Botschafter mit Leidenschaft ausgezeichnet.
Das „The Rite of Spring Project“ ist die New Yorker Fortsetzung der preisgekrönten Dokumentation „Rhythm is it“, bei dem die Philharmoniker unter Simon Rattle mit benachteiligten Schülern arbeiten.
Eine Reportage von Josefine Koehn

New York - Die Körper liegen ausgestreckt auf dem Bühnenboden. Material für das „Rites of Spring“-Projekt in Zusammenarbeit mit den Berliner Philharmonikern und dem Weill Music Institute der New Yorker Carnegie Hall. Zaghaft hebt sich zum aufblühenden Klang des Fagotts von Igor Stravinskys provokativer Komposition „The Rites of Spring“ der erste Po in die Luft. Mit den nächsten Blasinstrumenten folgen weitere. „Das war der schwerste Teil für mich,“ sagt Ana, eine Sechstklässlerin der Public School 161 in Harlem. Insgesamt wurden 200 Schüler aus neun öffentliche Schulen in New York City ausgewählt um den Erfolg der Ausbildungs- und Zukunftsprogramme der Berliner Philharmoniker fortzusetzen, das mit der preisgekrönten Dokumentation „Rhythm Is It!“ begann und für das Simon Rattle und sein Orchester in New York nun von der UNICEF als „Botschafter mit Leidenschaft“ ausgezeichnet wurden.

Viele Worte wurden am Abend der New Yorker Projektpremiere darüber gemacht, aber nichts kann die positiven Auswirkungen so stark beschreiben, wie die Aufführung der Jugendlichen selbst. Mit unermüdlicher Energie stürmen sie über die Bühne, scheuen sich nicht vor obskuren Körperhaltungen, in denen sie bewegungslos ausharren, sobald die Musik stoppt. Einfach ist es nicht, die Pause als Teil der Musik anzuerkennen, wenn man ein Teenager ist und aufgeregt – und eigentlich nie wirklich gelernt hat, sich auf etwas 100prozentig zu konzentrieren. Aber die Lehrer und Trainer lassen nicht locker – und als dann bei der Generalprobe Sir Simon Rattle nochmals sehr ernsthaft alle bittet, sich doch erst zu bewegen, wenn sie Musik hören, schließen sich die Münder und öffnen sich die Ohren.

Die Jugendlichen geben alles, was sie haben für diesen Tanz: ihr Können, ihre Energie, ihre Geduld, ihr Leben. Und das nicht nur symbolisch. In einem korrelierenden „Songprojekt“ hat eine andere Schülergruppe unter Anleitung einiger Berliner Philharmoniker sowie der Komponistin und Direktorin des Ausbildungsprogramms der Philharmoniker Catherine Milliken und Gesangslehrerin Mary King sowie Anna Klein, mir Texten, Musik uns Rhythmus in Anlehnung an Strawinskys „Rites of Spring“ experimentiert. Es geht um Unschuld und Versuchung, um Angst, Bandenkriege, Blutvergießen und Hoffnung. Es geht darum erwachsen zu werden in einer Welt, in der es so viele falsche und gefährliche Wege gibt, wie etwa in der Bronx und anderen Gegenden, aus denen die überwiegend hispanischen und afroamerikanischen Projektteilnehmer kommen.

Da ist etwa Marc Anthony, 16 Jahre alt, der stolz erzählt, nun auch klassische in die Samples seiner Reggae- und HipHop-Tunes mischen zu wollen. Er sei „eigentlich nicht der Sänger,“ aber das Projekt habe ihm Mut gemacht, neues au zu probieren und ihm gezeigt, dass er kein „Nichts“ sei. Das erzählt er aber erst, als er eingestehen muss, dass sein Dad nicht kommen wird, um ihn heute Abend zu sehen. „Er ist aus meinem Leben verschwunden, verstehst du. Für ihn existiere ich nicht mehr, weil, er will keinen Unterhalt mehr für mich bezahlen.“ Viele der Kinder und Jugendliche sind wie Marc Anthony mehr oder weniger auf sich allein gestellt. „Sie müssen irgendwie funktionieren, aber nach ihren Gefühl, und nach dem, was sie wirklich wollen, fragt selten jemand,“ erklärt Catherine Milliken, Bei einer der Proben sei ein Junge einfach in Tränen ausgebrochen.

„The Rites of Spring“ lösen etwas aus in den 200 Jugendlichen von denen Anfang die Hälfte unpünktlich oder gar nicht zu den Proben erschien. Am Abend der Vorführung selbst kommen vereinzelte Eltern noch eine Stunde nach Beginn und suchen im Dunkeln stolpernd nach ihren Plätzen. Sir Rattle, der sich bei den Proben noch so streng absolute Ruhe erbat, lässt sich davon nicht stören und treibt seine Philharmoniker zum wilden Ritentanz während die Jugendlichen auf der Bühne zu Jägern und Gejagten werden, mit Windmühlenarmen und fliegenden Haaren die Wildheit des Stücks zum Höhepunkt treiben.

Später wölbt sich ein fließendes rotes Tuch über die Tanzenden, aus dem blutfarbenen Gewoge erhebt sich eine Totenmaske. Während das Tuch langsam an den hinteren Bühnenrand weicht, rollen die Körper der Tänzer nach vorn auf die Bühne. Immer wieder kommt die Choreographie Royston Maldooms auf das Kernmotto von Opfer, Tod und neuem Leben zurück. Etwa wenn die körperlich größeren Teenager die kleinen, auf die Bühne stürmenden Zweitklässler erst auf ihren Rücken nehmen, dann aber im Tanz bedrohen – und schließlich ein kleines Mädchen wie eine Jagdbeute an einer langen Stange von der Bühne tragen. Oder wenn Solo-Tänzerin Taylour Thomas in ihrem blutbefleckten Kleid verzweifelt und wie eine Ertrinkende inmitten der um sie wogenden Körper der anderen Tanzenden wirbelt.

Auch im Song- und Rhythmusprojekt wird dieses Motiv des Opfers mit dem Verfall der Unschuld aufgegriffen. In Bruchstücken aus kollaborativ erarbeiteten Textzeilen wird die Geschichte eines Mädchens erzählt, einem Kind der Freude, „safe and free“ voll von „innocence and purity“. Doch sie kann nicht bestehen in dieser Welt, verliert mit ihrer Kindheit alles, was sie besonders gemacht hat. „Innocence is life“ singen diese 12- bis 16-jährigen, die sich in ihrer Welt tagtäglich die eigene Unschuld neu erkämpfen müssen und dennoch viel zu früh zum erwachsen werden gezwungen sind.

Es ist nicht leicht für sie, sich auf „The Rites of Spring“ einzulassen. Die meisten von ihnen hatten solche Musik noch nie gehört. „Ich dachte, wir tanzen zu HipHop oder Rock’n’Roll oder so,“ meint Ana. Und Ceshnisha fand die Komposition am Anfang sogar langweilig. „Ich weiß, es ist ein bekanntes Stück, aber warum das Ganze nicht peppiger machen?“, fragte sie. Viele der Jugendlichen haben zwar einen musikalischen Hintergrund, singen im Schul- und im Kirchenchor, aber das ist meist ausschließlich Gospelmusik. Fast alle hören HipHop oder R&B, aber nur wenigen fällt zu klassischer Musik viel mehr als der Name Beethoven ein – zumindest vor „The Rites of Spring“. „Jetzt höre ich oft klassische Musik,“ sagt Kiara Woody, „einfach so im Radio.“ Kareem Bridges, 17 Jahre alt, ist nicht so beeindruckt. Statt auf den Star-Dirigenten Simon Rattle zu warten, der sich bei ihnen für ihre Mitarbeit bedanken will, möchte Kareem nach der anstrengenden Probe nun lieber nach Haus – zu drei Schwestern, zehn Brüdern und – vor allem - seinem Fernseher. Kareem spielt im „Songprojekt“ die große Basstrommel mit der vorher gerade noch einen ziemlich komplizierten Rhythmus eingeleitet hat. Also warum Fernsehen schauen, wenn doch hier der Film seines eigenen Lebens läuft? Kareem zuckt nur die Schultern. Andere wollen sich dagegen gar nicht trennen von der Musik, summen, singen, klatschen und steppen auf den Gängen und in den Umkleideräumen weiter.

„When you find out who you are, it does not matter what you have been“, lautet ein Zitat von Reverend Ike, das in großen Lettern oben im reich verzierten Foyer des United Plaza Theaters prangt, das seit 1969 von demselben Reverend als Megakirche genutzt und als Konzerthalle vermietet wird. Ja, aber was haben die Jugendlichen nun wirklich über sich selbst herausgefunden. Die Mentoren hoffen, die Kreativität der Jungen und Mädchen zu inspirieren. Tatsächlich will Kiara Woody, eine Zehntklässlerin weiter an ihrer Stimme arbeiten, auch wenn sie dennoch ihren eigentlichen Berufswunsch, Krankengymnastin zu werden, weiter verfolgen will. Ihre Freundin Andrea Green will sich selbstständig machen, „aber so, dass ich der ‚community’ etwas zurückgeben kann“, erklärt sie. Gemeinsam singen alle „Don’t give up to the pressure, ‚cause your life is a treasure“ (Gib dem Druck nicht nach, denn dein Leben ist zu wertvoll) – und enden mit der Aussage „Don’t be afraid to speak out“. Und als Sir Simon Rattle der Solotänzerin Taylour Thomas (Harlem School of the Arts), die sich als letztes großes Opfer in „The Rite of Spring“ die Seele aus dem Leib tanzt, nach dem Beifallssturms einen Handkuss gibt, ist die Hoffnungen auf ein besseres, glücklicheres und selbstbestimmteres Leben auf einmal Wirklichkeit – zumindest für diesen Augenblick.
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