Der Brite John Cranko ist schon über 40 Jahre tot. Doch die Arbeit der Ballettlegende wirkt in Stuttgart noch immer nach – vor allem in der nach ihm benannten Schule, einer wahren Kaderschmiede des Tanzes.
Es sind immer die gleichen Schritte. Die gleichen Sprünge. Die scheinbar gleichen Drehungen. Wieder und wieder – auf die große Spiegelwand zu. Vermeintliche Schnitzer kommentiert Marco Giombelli selbst mit einem kritischen Blick. Der erst 19 Jahre alte Italiener in dunkelblauen Leggings und weißem, verschwitztem T-Shirt, blickt aber auch zum Lehrer neben dem Klavier. War das so okay?
Genügte es auch seinen höchsten Ansprüchen? Was sagt sein kritischer Blick? Endlich kommt ein – fast zufriedenes – „besser, besser, jetzt haben wir es gleich“ aus der Ecke.
Marco Giombelli lebt seinen Traum. Aufgewachsen irgendwo zwischen Bergamo und Mailand, ist er 2013 nach Stuttgart gekommen. Tänzer will er werden. Und die John Cranko Schule hier ist für ihn die allererste Adresse. Ballett-Legende John Cranko (1927-1973) habe ihn von jeher fasziniert. „Ich will ein Teil dieser Exzellenz werden.“ Die Ausbildung sei hart. Aber genau das sei ihm wichtig. „Die Liebe zum Ballett motiviert mich jeden Tag aufs Neue, nicht aufzugeben, auch wenn mein Körper etwas anderes sagt.“
Ballett sei „ehrliche Arbeit“, betont Tadeusz Matacz. „Da kann keiner nicht lügen.“ Der Pole leitet die Schule seit 1999. Sie ist längst zur Kaderschmiede der europäischen Ballettszene geworden. „Der Wunsch, mit den Besten zu arbeiten“ habe auch ihn hierher geführt.
Das Stuttgarter Ballett und die Schule hätten weltweit einen „riesigen Namen“. Compagnie und Schule seien hier „ein Organismus“, vielleicht so sehr wie sonst nirgendwo auf der Welt.
Geprägt hat das Intendant Reid Anderson. „Als ich nach Stuttgart kam, konnte ich an einer Hand abzählen, wer aus der Schule gekommen ist“, erzählt der Kanadier. „Jetzt kann ich an einer Hand abzählen, wer nicht aus der Schule kommt.“ Und: „Das war ein Traum von John.“
Rund 500 Bewerber habe es in diesem Jahr gegeben, berichtet Matacz.
Viele Italiener, Asiaten, etwa die Hälfte Deutsche. Genommen werden Jahr für Jahr maximal 30. „Viele sind nicht bereit, sich zu opfern“, sagt Matacz. Und das müsse man sein. Und man müsse bereit sein, „sich komplett der Sache zu verschreiben und sich justieren zu lassen“.
Balletttänzer sei kein Beruf, von dem man sagen könnte, „das lohnt sich“. Vielmehr sei es einer für absolute Idealisten. Matacz, einst selbst Erster Solotänzer am Großen Theater Warschau, fasst das trocken so zusammen: „Es ist eine Beschäftigung für Verrückte.“
Allerdings mit Jobgarantie. Wer durchhalte, finde recht schnell eine Anstellung. „Tänzer finden immer einen Job.“ Morgens Schule, nachmittags Tanz. In zehn Jahren – startend mit sieben – werden Talente hier zur Bühnenreife geführt. Das monatliche Schulgeld steigert sich von 60 auf 160 Euro. „Ich lebe jetzt mit Hingabe und Passion meinen Traum in der Gegenwart“, sagt Schüler Giombelli. „Meine Eltern haben mir beigebracht, Stufe um Stufe mein Leben zu meistern, Tag für Tag neuen Herausforderungen zu begegnen.“
Obwohl die Kaderschmiede räumlich „noch keine Attraktion“ sei, sagt Ballettexperte Hartmut Regitz, habe sie doch einen „hohen Stellenwert“. Schlüssel sei die enge Anbindung an die Compagnie, erklärt der Redakteur der Zeitschrift „Tanz“. „Man muss nicht vortanzen, um engagiert zu werden, sondern entwickelt sich gleichsam unter den Augen des Ballettintendanten, der dadurch die Qualitäten jedes einzelnen Eleven besser einschätzen kann, als das bei einem Augenblickseindruck der Fall ist.“ Und 2018 ist dann auch der 50 Millionen Euro teure Neubau fertig.
Schule und Theater hätten „beide weltweit einen hoch angesehenen Namen“, sagt Demi Van Damme. Fragt man die gerade 20 Jahre alte Belgierin mit Wurzeln in Trinidad danach, was sie nach Stuttgart zog, nennt sie die „strenge russische Ausbildung“ einwandfreier Lehrer und – natürlich – John Cranko. „Er war revolutionär.“ Jetzt quasi im Herzen seines Schaffens zu sein, sei etwas ganz Besonderes. Ein Traum. Ohne dass sie jetzt schon wissen, wohin er sie mal treiben wird. Solistin sei ihr Ziel, wie wohl von allen anderen hier auch.
Dafür wolle sie arbeiten. Doch: „Man weiß nie, wohin das Leben einen trägt.“ Daher müsse man immer offen sein für den Plan B.