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Betriebssystem für ein neues Denken

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Der „Multidimensionale Unterricht“ soll die Separierung des Einzelunterrichts aufbrechen
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„Multidimensionaler Unterricht“ (MDU) klingt sehr technisch. Dahinter verbirgt sich indes ein ausgesprochen menschlicher, praxisnaher Ansatz, der verkrustete Strukturen aufzubrechen vermag. Dabei können die Vorzüge des Einzel-, Gruppen- und Ensembleunterrichts oder gar des Klassenmusizierens – stellt man es richtig an – erst recht zur Geltung kommen.

Es war eine „verschworene Truppe“ von rund zwei Dutzend Lehrpersonen und Schulleitern aus der Schweiz, Deutschland und Österreich, die sich Ende August an den Musikschulen Dübendorf und Rheineck zu einem dreitägigen Seminar zum Thema „Alters- und Niveaugemischte Interaktion nach MDU“ traf. Die Leitung hatte Gerhard Wolters, der bereits Ende der 90er-Jahre die Grundzüge des „Multidimensionalen Instrumentalunterrichts“ entwickelte und 1999 in Buchform veröffentlichte (siehe Literaturhinweis). 

Des seriellen 30-Minutenrasters im Einzelunterricht überdrüssig, formulierte Wolters sieben Dimensionen eines schülerzentrierten Instrumentalunterrichts: 1. Lernen mit – mindestens zwei – Unterrichtspartnern, 2. Lernen in mehreren Räumen, 3. Lernen in flexiblen Zeiten, 4. Lernen mit mehreren Lehrkräften, 5. Lernen mit Unterrichtspartnern verschiedenen Alters, 6. Lernen mit Unterrichtspartnern verschiedenen Niveaus, 7. Lernen verschiedener Instrumente.

Am weitesten gediehen ist die Umsetzung seines pädagogischen Konzepts an der Joseph-Schmidt-Musikschule in Berlin Treptow-Köpenick. Hier gibt es zehn Musikpädagoginnen und -pädagogen, die MDU umsetzen; das heißt, auf allen Stufen kommen die Schüler mehrere Stunden zu mehreren Lehrpersonen in vielen Räumen und lernen mit- und voneinander.

Auch in der Schweiz beginnt da und dort die MDU-Saat zu sprießen: An den Musikschulen Am Alten Rhein Rheineck, Dübendorf und Gelterkinden sind einige Lehrpersonen in die dreijährige MDU-Fortbildung eingebunden. In regelmäßigen Seminaren werden die Teilnehmenden geschult, ihre praktischen Erfahrungen diskutiert, hinterfragt und ausgewertet. In Unterrichtsdemonstrationen können sie sich gegenseitig beobachten und voneinander lernen. Zwischen den Seminaren kommen Telefon- oder Skype-Beratungsstunden mit Gerhard Wolters oder MDU-Tutoren hinzu. 

„MDU ist meiner Ansicht nach keine Unterrichtsform, sondern eine pädagogische und organisatorische Grundlage – also Betriebssystem, nicht Programm – eines neuen Denkens von Musikalischer Bildung, das alle bisher bekannten Unterrichtsformen integrieren kann“, so Wolters – Multifunktionalität ist demnach allen Unterrichtsformen übergeordnet und lässt sich auf diese anwenden. 

Das Aufbrechen der traditionellen Separierung im Einzelunterricht mit notabene immer kürzeren Unterrichtseinheiten stößt schon lange an seine Sinngrenze, wird aber meist aus Bequemlichkeit oder Alternativlosigkeit weitergeführt.

Der Grundgedanke ist einfach: Die Unterrichtszeiten zweier oder mehrerer Schülerinnen oder Schüler werden zusammengeführt. Das macht bei drei Schülern in der Regel drei Mal 30 Minuten. In diesen 90 Minuten sind dann alle drei anwesend. Jetzt vollzieht sich im Grunde ein alternierender Einzelunterricht. Während die Lehrperson mit einem Schüler zugange ist, sind die beiden andern in einem Nebenraum und führen die zuvor von der Lehrperson gestellten Übungen auf eine klar definierte Art und Weise aus. Wenn zwei Schülerinnen im selben Raum sind, muss auch die Interaktion vorbereitet sein. Die Ältere hilft der Jüngeren oder die Jüngere hört der Älteren zu und macht zum Beispiel „Übekontrolle“. Kehren dann die Schülerinnen ins Unterrichtszimmer zurück, kommen allgemein bekannte, aber oft vernachlässigte pädagogische Grundsätze zur Anwendung – ein nicht unwesentlicher Teil des MDU-Systems. Anstatt zu sagen: „Spiel mal vor, was du geübt hast“ mit anschließender Lehrerbeurteilung, versucht der Unterrichtende die Probleme Fragen stellend einzukreisen und die Selbsteinschätzung des Schülers abzufragen. Durch Verbalisieren des Übeerfolges muss sich der Schüler erst selbst darüber klar werden, was seiner Ansicht nach besser geht und wo es noch Probleme gibt.

Im selben Grad, wie die Interaktion – das gegenseitige Helfen unter den Schülern – zu funktionieren beginnt, nimmt die Omnipräsenz der Lehrperson ab. Im MDU-Idealfall wird die Lehrperson zum Coach, zur Ansprechsperson für die Schülerschaft, die beim Lehrer von sich aus Hilfe sucht. Wolters stellt das Rollenverständnis gehörig auf den Kopf: „Ich will gar nicht mehr, dass meine Schüler etwas lernen; ich möchte nur noch, dass sie etwas lernen wollen.“

In der Diskussionsrunde in Dübendorf kommt die Begeisterung der Teilnehmenden über ihre Arbeit zum Ausdruck. Vor allem die Interaktion zwischen den Schülerinnen und Schülern wird hervorgehoben. Beginnt diese einmal zu greifen, wird überall eine Dynamik beobachtet, die unabhängig von der Lehrperson zu funktionieren beginnt. Rainer Thiede, Musikschulleiter in Rheineck, stellte im Laufe seiner Arbeit mit MDU fest, dass er sich als Lehrer manchmal fast schon überflüssig vorkam, da sich eine lebendige Zusammenarbeit und ein gemeinsames Lernen unter den Schülern einstellte. Gerhard Wolters gibt zu Bedenken, dass durch die Arbeit in andern Räumen eine sehr positive Dynamik entstehen könne. Genau so gut könne sie aber auch scheitern. Dieses Risiko gelte es in Kauf zu nehmen. Auch die fraktionierten Übeeinheiten dürften nicht zu einem Verlust des musikalischen „Flow“ führen. Olivier Scurio von der gastgebenden Musikschule spricht von „nachhaltigem Üben“, welches sich auch auf die Arbeit zu Hause auswirke. 

Der Weg zum erklärten Ziel der „Tagesmusikschule“ dürfte allerdings noch weit und steinig sein. Die Steine, die im Weg liegen, heißen unter anderem Lehrplan Volksschule, Raumknappheit der Schulen, Zeitknappheit der Schülerschaft und Unbeweglichkeit der Lehrpersonen. Gerhard Wolters betont, es gehe nicht darum, sämtliche Schulen auf sein neues Prinzip einzuschwören. Einzelne Versuche an verschiedenen Schulen in Randzeiten seien immer möglich. Wenn die Zeit reif ist, wird sein Credo gehört und umgesetzt werden, davon ist der sympathische Idealist überzeugt.

Infos und Seminartermine: www.tagesmusikschule.ch

Literaturhinweis

  • Gerhard Wolters, Reinhard Stein, Christine Bisle: Wege aus der Eintönigkeit – Multidimensionaler Instrumentalunterricht, Zimmermann, Frankfurt 1999, ISBN 3-021729-71-8

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